Zwischen 8.000 und 120.000 Menschen in Deutschland sind laut wissenschaftlichen Schätzungen intersexuell. Der Mensch ist mit dem „dritten Geschlecht“ allerdings nicht alleine, denn auch in der Tierwelt gibt es Fälle von Intersexualität – so auch im Osnabrücker Zoo.
Intersexualität bezeichnet eine Vielzahl von Variationen, bei denen die körperlichen Geschlechtsmerkmale eines Individuums nicht den normativen Definitionen von männlich oder weiblich entsprechen. Dies kann sich auf chromosomale, hormonelle oder anatomische Aspekte beziehen. Der Umgang mit Intersexualität hat sich in Deutschland in den letzten Jahren spürbar gewandelt. Offizielle Zahlen gibt es zwar nicht, doch laut wissenschaftlichen Schätzungen gelten hierzulande bis zu 120.000 Personen als intersexuell. Rechtlich gesehen haben sie seit einem Bundestagsbeschluss im Jahr 2018 die Möglichkeit, sich im Register statt als “männlich“ oder “weiblich“ als “divers“ auszuweisen.
Kleiner Kudu aus dem Osnabrücker Zoo ist intersexuell
Der Mensch ist mit der Intersexualität dabei nicht alleine, denn auch in der Tierwelt gibt es das „dritte Geschlecht“. Mit dem Kleinen Kudu Julius lebt seit vergangenem Jahr ein Beispiel dafür im Osnabrücker Zoo, wie in diesem Sommer festgestellt werden konnte. Konkret liegen bei der Antilope vom Schölerberg hormonell und phänotypisch, also in der äußeren Ausprägung, unterschiedliche Hinweise auf das Geschlecht vor.
Tierarzt Dr. Jannis Göttling klärt auf: „In der Biologie unterscheidet man zwischen verschiedenen Kategorien äußerlicher Geschlechtsmerkmale. Zum einen gibt es die primären Geschlechtsmerkmale, die Genitalien. Diese zeigen bei unserem Kleinen Kudu eine männliche Ausformung, was bereits in den ersten Lebenstagen festgestellt wurde.“ Später in der Entwicklung kommen dann sekundäre Geschlechtsmerkmale hinzu, die sich im Falle männlicher Kleiner Kudus etwa in einer zunehmend grauen Fellfarbe, einem beschleunigten Größenwachstum und der Hornentwicklung äußern. „Bei unserem Tier blieb all das zunächst aus; lediglich sehr kleine Hornansätze wuchsen mit vielen Monaten Verspätung“, fügt Göttling hinzu.
Zwei verschiedene Hormonprofile
Der Tierarzt erklärt weiter: „Bei Säugetieren hat das Geschlecht eine genetische Grundlage. Mit Hilfe eines Genetiklabors in Tschechien konnten wir im Juni nachweisen, dass sowohl ein Y-Chromosom als auch ein X-Chromosom vorliegen: auch hier ein männliches Bild. In diesem Zuge gingen Serumproben zur Hormonuntersuchung an ein anderes, kommerzielles Labor. Dort zeigte sich wiederum ein eher weibliches Hormonprofil.“
Julius, der am 11. Juni 2022 im Osnabrücker Zoo geboren wurde und gemeinsam mit Männchen Horst und Weibchen Namono am Schölerberg lebt, ist damit eine echte Seltenheit, wie Göttling ausführt: „Intersexualitäten und Abweichungen im Hormonhaushalt in frühen Entwicklungsphasen betreffen bei zweigeschlechtlichen Lebensformen in der Regel nur einen sehr kleinen Anteil aller Individuen. Das ist auch bei Kleinen Kudus so.
Mehrfache Rarität
Im Falle von Julius hat die Intersexualität mitsamt der damit verbundenen Zuchtuntauglichkeit auch konkrete Auswirkungen auf mögliche Zuchtpläne, erläutert Göttling: „Der Zoobestand der europäischen Kleinen Kudus wird in einem Zuchtprogramm koordiniert. Die Koordination hätte bei einer Zuchttauglichkeit unseres Tiers die Genetik möglicher Partner geprüft und eine entsprechende Empfehlung ausgesprochen.“
Weltweit gibt es derzeit noch einen Bestand von 80.000 bis 100.000 Kleinen Kudus in den Buschsavannen Ostafrikas. „Da der Bestandstrend seit einigen Jahren nach unten geht, wird die Art seit 2008 in der Roten Liste der International Union for Conservation of Nature (IUCN) auf der Vorwarnliste geführt („Near Threatened“), aber gilt aktuell nicht als bedroht“, berichtet Göttling.
Besucherinnen und Besucher des Zoos können damit am Schölerberg auch in Zukunft eine echte Rarität beobachten – zumal der Bestand der Kleinen Kudus als Zootiere in Europa mit etwa 90 Tiere und zehn Tiergärten ebenfalls äußerst gering ausfällt.