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Bahnfahren zum Abgewöhnen: Protokoll einer elf- statt vierstündigen Odyssee mit der Deutschen Bahn

Fahr‘ mehr Bahn, nimm das Fahrrad. So hat man ihm gesagt. Wir brauchen die Verkehrswende. Jetzt. Hat man ihm auch gesagt. Also hat HASEPOST-Redaktionsleiter Dominik Lapp vor drei Jahren sein Auto abgegeben, ist seitdem in Osnabrück die meiste Zeit mit dem Fahrrad unterwegs und fährt weitere Strecken in der Regel mit der Bahn. Früher legte er mit dem Auto rund 50.000 Kilometer pro Jahr zurück, jetzt sind es weniger als 10.000 Kilometer. Am Bahnfahren weiß er inzwischen vor allem die wertvolle hinzugewonnene Zeit zu schätzen, die man für allerlei Dinge nutzen kann, während man durchs Land gefahren wird. Es könnte so schön sein. Würde man nicht in der ostdeutschen Pampa stranden. Ohne Heizung und Strom. Bei Minusgraden und Schneefall.

Ein Protokoll von Dominik Lapp

Magdeburg an einem Sonntag, 19:30 Uhr
Nach einem nachmittäglichen Musicalbesuch in Magdeburg stehe ich dort am Hauptbahnhof und blicke auf meinem Smartphone in die DB Navigator App. Um 20:10 Uhr soll ich mit der S-Bahn nach Stendal fahren und um 20:57 Uhr ankommen, anschließend in den Intercity nach Osnabrück umsteigen, der um 21:32 Uhr abfährt. Schockschwerenot! In der App ist die Verbindung mit einem roten Ausrufezeichen gekennzeichnet. Das bedeutet nie etwas Gutes.

Ich öffne also den Reiseplan und befürchte eine Verspätung der S-Bahn, mache mir Sorgen, meinen Anschluss nicht zu bekommen. Doch dann sehe ich, dass es viel schlimmer ist: Der Intercity fällt aus! Panik macht sich breit, da ich weiß, dass es keine spätere Verbindung nach Osnabrück gibt. Erleichterung: Für den ausgefallenen IC 2240 verkehrt IC 2932 als Ersatzzug. Puh. Glück gehabt.

Magdeburg, 20:10 Uhr
Ich steige in die S-Bahn nach Stendal, die pünktlich abfährt.

Deutsche Bahn: Verbindung fällt aus / Screenshot: Lapp
Blick in die DB Navigator App: Verbindung fällt aus. / Screenshot: Dominik Lapp

Ein Unfall, zwei Minuten vor Ankunft

Kurz vor Stendal, 20:55 Uhr
Aus den Lautsprechern dröhnt die Durchsage, dass wir in Kürze in Stendal eintreffen. Die Anschlussverbindungen werden durchgegeben. Alles läuft nach Plan. In zwei Minuten bin ich am Umstiegsziel und werde meinen Anschluss auf jeden Fall bekommen. 35 Minuten bleiben mir zum Umsteigen. Die Durchsage ist gerade verstummt, als plötzlich ein ohrenbetäubender Lärm entsteht. Innerhalb von Zehntelsekunden gehen mir verschiedene Gedanken durch den Kopf. Zunächst meine ich, dass durch die Bahn fliegendes Gepäck den Lärm verursacht. So hat es sich nämlich angehört, als ich vor 24 Jahren mal in einem ICE mit Personenschaden saß, der eine Vollbremsung einlegte und dadurch sämtliche Koffer durch den Zug flogen. Dann denke ich an einen Snackwagen, der durch die Bahn fliegt, verwerfe den Gedanken aber sofort wieder, weil in der S-Bahn gar kein Personal mit Snackwagen mitfährt. Der Lärm wird immer lauter, kommt immer näher, es knallt und poltert, knarzt und kratzt. Der Boden unter mir vibriert, es pocht etwas von unten dagegen. Verdammt! Entgleist unsere Bahn etwa gerade? Das Herz rutscht mir in die Hose. Nach wenigen Sekunden ist alles vorbei und der Zug steht auf offener Strecke. Draußen ist es dunkel und zugeschneit.

Kurz vor Stendal, 20:57 Uhr
Eigentlich hätte die S-Bahn jetzt in den Bahnhof von Stendal einfahren sollen. Stattdessen stehen wir wenige Kilometer vor der Stadt. Informationen sind erst mal nicht zu bekommen.

Kurz vor Stendal, 21:05 Uhr
Endlich meldet sich die Zugbegleiterin über Lautsprecher. Wir hatten einen Unfall, haben wohl einen unbekannten Gegenstand überfahren. Der Triebwagen ist nicht mehr manövrierfähig. Sie bittet darum, nicht in Panik zu verfallen, falls das Licht ausgehen sollte. Eine junge Frau in meiner Nähe ruft abwechselnd mehrere Freunde und Familienmitglieder an. Sie verpasst ihren Anschluss in Stendal und will nicht bis 22:30 Uhr am kalten Bahnsteig auf den nächsten Zug warten müssen. Aber es findet sich niemand, der sie mit dem Auto abholt. Ich denke mir, dass sie wahrscheinlich gar nicht in der Kälte warten muss, weil wir womöglich noch einige Zeit auf der offenen Strecke in der Bahn festsitzen.

Kurz vor Stendal (blauer Punkt) war kein Weiterkommen. Anderthalb Stunden lang. / Foto: Google Maps
Kurz vor Stendal (blauer Punkt) war kein Weiterkommen. Anderthalb Stunden lang. / Foto: Google Maps

Laune auf dem Tiefpunkt

Kurz vor Stendal, 21:15 Uhr
Wir warten auf Informationen. In mir macht sich Panik breit, in der ostdeutschen Pampa gestrandet zu sein. Schließlich fährt in 17 Minuten der Intercity nach Osnabrück. Es ist der letzte Zug in die Heimat. Inzwischen funktioniert die Heizung nicht mehr, es wird schnell kalt. Ich ziehe meine Jacke an. Mein an eine Steckdose angeschlossenes Smartphone lädt auch nicht mehr – kein Strom mehr. Die digitalen Anzeigen sind aus, es erfolgen auch keine Durchsagen mehr. Nur das Licht leuchtet noch. Die Zugbegleiterin läuft durch die Bahn und erklärt grüppchenweise, wie es weitergeht: Wir werden abgeschleppt. Wann es weitergeht? Unbekannt. Schön, denke ich mir, also ein ungeplante Übernachtung in Stendal. Ich recherchiere Hotels und stelle fest, dass die alle schon geschlossen haben werden, bis wir am Bahnhof sind. Es sind keine großen Hotels, deren Rezeption 24 Stunden besetzt sind. Also die Nacht am Bahnhof bei Minusgraden verbringen. Meine Laune ist auf dem Tiefpunkt.

Kurz vor Stendal, 21:35 Uhr
Draußen in der Dunkelheit nehme ich mehrere Lichter wahr. Einige Bahnangestellte laufen die Bahn ab und leuchten mit ihren Taschenlampen. Im Inneren realisieren einzelne Mitreisende, dass es in der S-Bahn kein WC gibt. Es ist inzwischen echt kalt. Ein paar Leute unterhalten sich darüber, einfach auszusteigen. Laut Google Maps sind es nur 250 Meter bis zur nächsten Straße. Von dort wollen sie sich abholen lassen. Sie scheinen also aus der Gegend zu sein. Ich hingegen bin noch drei Stunden von Osnabrück entfernt. Die Zugbegleiterin sagt, sie lasse ganz sicher niemanden auf offener Strecke aussteigen. Lebensgefahr. Als sie weg ist, beratschlagen zwei Männer, wie sie die Tür manuell öffnen können. Letztendlich führen sie ihren Plan aber nicht aus.

Der Schlüssel ist abgebrochen

Kurz vor Stendal, 21:51 Uhr
Wir sitzen mittlerweile fast seit einer Stunde fest. Zwei Lokführer laufen die S-Bahn innen von einem zum anderen Ende ab. Ich nehme Wortfetzen wahr. Einem von ihnen ist wohl der Schlüssel abgebrochen. Es gibt noch irgendein anderes Problem beim Ankoppeln. Ach ja, mein Anschlusszug ist natürlich schon lange weg. Aber immerhin scheint der zweite Zug zum Abschleppen angekommen zu sein. Ich frage mich, ob ich bei „Versteckte Kamera“ bin.

Kurz vor Stendal, 22:02 Uhr
Es wackelt. Offensichtlich hat die andere Bahn angedockt. Hoffentlich werden wir jetzt abgeschleppt.

Kurz vor Stendal, 22:14 Uhr
Der Zug bewegt sich. Nach einer Stunde und 19 Minuten. Ja, wir rollen tatsächlich. In Schrittgeschwindigkeit. Aber immerhin.

Der Triebwagen qualmt stark

Endlich in Stendal, 22:34 Uhr
Angekommen in Stendal. Die vordere Tür wird manuell per Hand geöffnet. Als ich aussteige, sehe ich, dass der Triebwagen stark qualmt. Es stinkt verbrannt. Offensichtlich sind die blockierten Bremsen beim Abschleppvorgang heißgelaufen. Ich frage die Zugbegleiterin, wie ich jetzt nach Osnabrück komme, da ich gestrandet bin. Ihre lapidare Antwort: „Am besten fahren sie retour nach Magdeburg.“ Ich schaue sie entsetzt an und frage: „Und was soll ich in Magdeburg? Von da komme ich ja auch nicht weiter.“ Die Zugbegleiterin sagt, dass sie mir nicht weiterhelfen könne. „Da kann ich nichts machen.“ Ich hatte eigentlich erwartet, dass ich einen Taxi- oder Hotelgutschein bekomme oder man mir zumindest eine Lösung aufzuzeigen versucht. Fehlanzeige. Auch dass die Zugbindung meiner Fahrkarte zum Supersparpreis aufgehoben ist, sagt sie mir nicht. Ich weiß es als regelmäßiger Bahnfahrer aber natürlich, stelle mir allerdings die Frage, was Leute in so einer Situation machen, die nicht dieses Wissen haben.

Ich schaue in die DB Navigator App und sehe, dass ein ICE aus Berlin in Richtung NRW wegen einer Reparatur am Zug 30 Minuten verspätet ist und statt um 22:18 Uhr um 22:48 Uhr abfährt. Er wird mich zwar nicht nach Osnabrück bringen, aber immerhin schon mal in die Nähe. Ich kann entweder bis Hannover oder nach Hamm fahren und muss dort jeweils ein paar Stunden auf Anschluss nach Osnabrück warten. Ich entscheide mich für Hannover. Wenn ich schon strande, dann lieber in einer Großstadt, in der ich auch um Mitternacht noch ein Hotelzimmer bekomme. Und selbst wenn ich die Nacht im Bahnhof verbringen müsste, möchte ich das lieber im großen Hauptbahnhof von Hannover tun als in Hamm. Dann hätte ich auch in Stendal bleiben können.

Endlich im warmen ICE

Abfahrt in Stendal, 22:48 Uhr
Ich sitze endlich in einem warmen ICE nach Hannover, der überraschend leer ist, obwohl in der App „Hohe Auslastung“ angezeigt wird. Es gibt auch Strom fürs Smartphone. Darüber buche ich mir schon mal ein Zimmer in einem Hotel am Hauptbahnhof Hannover. Das Geld erstattet mir die Bahn, den Antrag auf anteilige Ticketpreiserstattung und Erstattung der Übernachtungskosten kann man bequem über die DB Navigator App stellen. Trotzdem muss man erst mal in der Lage sein, eine ungeplante Hotelübernachtung bezahlen zu können. Als Student oder Azubi hätte ich nicht mal eben am Monatsende 60 Euro fürs Hotel übrig.

Hannover, 00:00 Uhr
Eingecheckt im Hotel, liege ich im Bett, kann aber erst etwa eine Stunde später einschlafen. Um 4:30 Uhr klingelt der Wecker, da der erste Zug nach Osnabrück um 5:09 Uhr abfährt.

Osnabrück, 6:50 Uhr
Angekommen in Osnabrück. Mit knapp siebenstündiger Verspätung. Obwohl der Zug um 5:09 Uhr pünktlich in Hannover abgefahren ist, kommen wir aber erst um 6:50 Uhr statt um 6:41 Uhr in Osnabrück an. Der Grund: Zwischen Melle und Osnabrück war ein langsam fahrender Güterzug vor uns unterwegs. Ich komme aus dem Kopfschütteln nicht mehr raus. Oh what a Night!


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Dominik Lapp
Dominik Lapp
Dominik Lapp ist seit 2023 Redaktionsleiter der HASEPOST. Der ausgebildete Journalist und Verlagskaufmann mit Zusatzqualifikation als Medienberater, Social-Media- und Eventmanager war zuvor unter anderem als freier Reporter für die Osnabrücker Nachrichten, die Neue Osnabrücker Zeitung und das Meller Kreisblatt sowie als Redakteur beim Stadtmagazin The New Insider und als freier Autor für verschiedene Kultur-Fachmagazine tätig. Seine größte Leidenschaft gilt dem Theater, insbesondere dem Musical und der Oper, worüber er auch regelmäßig auf kulturfeder.de berichtet.

  

   

 

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