Am Dienstag (29. August) ging es im Mordprozess um einen 82-Jährigen aus Bramsche, der einen 16-jährigen Schüler mit mehreren Schüssen tötete, in den zweiten Verhandlungstag. Als Zeugin sagte die Mutter des Opfers aus und berichtete neben dem Tathergang von einem Nachbarschaftskonflikt, der schon seit Jahren anschwoll – und nicht zuletzt den psychischen Zustand des 82-Jährigen anzweifeln lässt.
Der Angeklagte G. wird beschuldigt, den 16-Jährigen S. am Morgen des 28. Februars mit mehreren Schüssen aus einer Sportpistole umgebracht zu haben. Danach richtete er die Waffe in suizidaler Absicht gegen sich selbst. Seit dem 23. August verhandelt das Landgericht Osnabrück, ob es sich bei der Tat um einen heimtückischen Mord aus niedrigen Beweggründen handelt – dem voran ging ein über Jahre anschwellender Nachbarschaftskonflikt. Die Mutter des Schülers beobachtete Teile des grausamen Vorgangs von ihrem Balkon und schließlich auch vor der Haustür. Die Augen des Richters und der Öffentlichkeit waren am zweiten Prozesstag auf sie gerichtet.
Aussage über Livestream
Frau Sa. sagt am Dienstag nicht in Anwesenheit des Angeklagten aus. Zu schwer wiegen die psychischen Beschwerden, die sie seit dem Tod ihres Sohnes plagen. Eine ärztliche Stellungnahme bescheinigt, dass die psychische Belastung durch den Anblick des Angeklagten zu viele negative Effekte nach sich ziehen würde. Über einen Livestream wird die Aussage der Mutter des 16-Jährigen in den Verhandlungssaal übertragen. Sie selbst sitzt in einem anderen Raum des Gerichts und muss sich nicht im gleichen Raum wie der Angeklagte G. befinden.
S. bestand darauf, zur Schule zu gehen
Die Schilderungen von Sa. gehen unter die Haut. Mehrmals muss die 43-Jährige pausieren und nestelt sichtlich aufgebracht an ihren Händen. Während sie schildert, wie ihr Sohn und sie am 28. Februar verschliefen und er sich zügig anzog, um pünktlich in der Schule zu sein, bricht zum ersten Mal ihre Stimme. An diesem Dienstag stand für S. eine Englischklausur auf dem Plan, für die er am Tag vorher noch mehrere Stunden gelernt hätte. Sa. bot ihm an, zu Hause zu bleiben: Sie hätte ein merkwürdiges Gefühl gehabt. Für S. stand es allerdings außer Frage, zur Schule zu gehen. Seine Anstrengungen für die Klausur wären sonst umsonst gewesen. Also nahm er sich noch ein wenig Kleingeld von seiner Mutter, schulterte seinen Rucksack und ging in Richtung seines Fahrrades aus der Haustür.
Mutter sah die Tat vom Balkon
Sa. wäre währenddessen in der Wohnung verblieben – sie selbst hatte an dem Morgen einen Arzttermin. Bei der Kaffeemaschine angekommen, merkte sie, dass der Wassertank leer war. Auf dem Weg zum Wasserhahn hörte sie einen Schrei und direkt darauf den ersten Schuss. Wie ein Feuerwerk hätte sich der Schuss für Sa. angehört, als ob jemand Böller zünden würde. Erst einen und dann noch mehr. Dann folgte ein weiterer Schrei, der sich allerdings ganz anders anhörte, als der erste. „Eher wie ein Jaulen, als würde jemand einen Hund treten“, sagt Sa. Als sie dann die verzerrte Stimme von S. hörte, der nach Hilfe rief, war die Mutter alarmiert. Sie hetzte ins Wohnzimmer und ging auf ihren Balkon. Zuerst sah sie links das Fahrrad, mit dem sich S. vor wenigen Sekunden auf den Weg in die Schule machen wollte. Dann sah sie rechts ihren Sohn verkrampft am Boden. Ihm gegenüber war sein Nachbar G. In seiner Hand war eine Pistole.
Lachte der Angeklagte während der Tat?
Die Mutter versuchte, vom Balkon aus auf sich aufmerksam zu machen. Als die Augen von S. nach oben wanderten, um zu seiner Mutter zu schauen, bemerkte G. die Kopfbewegung. Er sah nach oben, dann wieder nach unten. Ein Lachen wäre über sein Gesicht geblitzt, bevor er einen weiteren Schuss in das Gesicht von S. feuerte. Sa. lief nach unten – wann genau sie den Notruf absetzte und wie sie es geschafft hat, ihr Handy zu entsperren, weiß sie nicht mehr. Unten angekommen wollte sie ihren Sohn vom Tatort entfernen, doch er war zu schwer. Danach ging alles schnell. Ein weiterer Schuss, dieses Mal nicht auf S., die eintreffenden Polizeibeamten und immer mehr Blut. Sa. erinnert sich, wie ihr Sohn ihre Hand gedrückt hat, bevor er ohnmächtig wurde. Sie wurde danach auf die Polizeiwache gebracht.
Erst Wecker, dann eine “Maschine”
Der Tat am 28. Februar ging ein lange andauernder Nachbarschaftskonflikt voraus, der nach der Aussage von Sa. nicht zuletzt die psychische Verfassung von G. anzweifeln lässt. G. wohnte in dem Mehrparteienhaus unter Sa. und ihrem Sohn. Immer wieder beschwerte er sich über Lärm aus der oberen Wohnung. Sa. berichtet, dass G. zunächst von Weckern redete, die die ganze Nacht über klingeln würden. Ein erster Höhepunkt wäre 2018 gewesen, als G. deswegen mitten in der Nacht sturmgeklingelt und schließlich gegen die Tür gehämmert hätte. Beide Mietparteien beschwerten sich regelmäßig bei ihrem Vermieter über einander. Einen Wecker, der die ganze Nacht klingelte, konnte niemand entdecken. Später wäre aus dem Wecker eine „Maschine“ geworden, die sich für G. wie eine Lokomotive angehört hätte. Mehrmals hätte der Angeklagte Sa. gebeten, diese „Maschine“ auszuschalten. Er hätte ihr vorgeworfen, diese „Maschine“ im Haus verbaut zu haben, „um ihn zu ärgern.“
Kontakt mit Sozialpsychiatrischem Dienst bestand bereits
Um welche Geräusche und Lärmbelästigungen es sich für G. gehandelt haben könnte, war sowohl für Sa. als auch andere Mietparteien unklar. Sa. vermutet, dass es vielleicht der Verkehr auf der Straße oder die Bahnschienen in unmittelbarer Nähe waren. Mehrmals wäre die Luft aus den Autoreifen von Sa. gelassen worden, mehrmals hätte die 43-Jährige den Angeklagten dabei gesehen, wie er ihr Auto inspiziert hätte. Ein Mal, so vermutet sie, hätte er sogar auf den Türgriff der Fahrerseite ihres Autos uriniert. Nachdem er sich nachts an ihrem Auto aufgehalten habe und an seinen Klamotten gezupft hätte, wäre eine sichtbare Pfütze unter der Fahrertür gewesen. Sa. stand bereits mit dem Sozialpsychiatrischen Dienst des Landkreises Osnabrück in Kontakt – die Streitereien häuften sich und sie begann sich zu sorgen. Offensichtlich nicht ohne Grund.
Der Angeklagte selbst wird erst aussagen, nachdem weitere Gutachten vorliegen. Den Schilderungen von Sa. während der Vernehmung folgte er erneut überwiegend emotionslos.