Wo soll das alles enden?
„Wenigstens 150 Leute in der Warteschlange vor einer Eisdiele.“
„In den Läden treten sich die Leute tot! Echt jetzt.“
„In der Stadt ist kein Durchkommen mehr!“
So lauten Originalzitate der letzten Tage in den Kommentarspalten von Facebook.
Seit ich vor einigen Jahren ein Konzert von André Rieu im Kurpark von Bad Nauheim und gleich darauf einen ganzen Tag mit Heino heile überstehen musste, kenne ich weder Furcht noch Hoffnung auf Besserung. Also bin ich – selbstverständlich ausgerüstet mit FFP2-Maske und Latexhandschuhen -, todesmutig in die Innenstadt geradelt
Um das Abenteuer „Überlebenstraining in der Stadt“ in Gänze auszukosten, bin ich natürlich gegen 16:30 Uhr los, zur Rushhour also. Bekanntermaßen beginnen sich um diese Uhrzeit auch die Einkaufsstraßen der Innenstadt allmählich bis zum Anschlag zu füllen.
Als erstes radele ich über den Hasetorwall in Richtung Bierstraße, wo mir ein Auto nach dem anderen begegnet, also exakt zwei Autos, nämlich erst das eine und dann das andere. Von der Bierstraße aus biege ich in die Große Gildewart ein, die um diese Uhrzeit häufig verwaist ist, doch heute scheint alles anders zu sein: Völlig unvorbereitet treffe ich auf der Höhe vom Haus der Jugend einen Spaziergänger an und kurz darauf strömt von der Hegerstraße aus einer zweiter Mann an mir vorbei. Bevor ich in Massenpanik gerate, will ich mich ins Büro der Hasepost flüchten, vergeblich, also muss nebenan die FDP herhalten, doch treffe ich auch dort nur Mülleimer an (Foto 1).
Als ich mich vergewissert habe, dass die Straße frei ist, radele ich über die Heger Straße in Richtung ARTelier-Café.
Ich habe den befreundeten Inhaber, den Maler Thomas Jankowski, schon seit Wochen nicht mehr gesehen und siehe da: Seine Galerie quillt aufgrund seiner und meiner Anwesenheit plötzlich fast über.
Nachdem wir kurz die Weltlage und danach die Strategie geklärt haben, wie ich es bei all den Menschenmassen unversehrt bis zum Neumarkt schaffen könnte, obwohl alle Restaurationsbetriebe auf dem Weg dahin geschlossen haben, stellt er mir ein Lunchpaket zusammen und wünscht mir für das kommende Vorhaben noch viel Glück. Wir wagen es zwar nicht auszusprechen, aber wir haben beide das Gefühl, uns womöglich nie wiederzusehen, zu gefährlich scheint diese Mission.
Kaum biege ich in die Krahnstraße ein, bleibe ich wie angewurzelt stehen: In etwa hundert Metern Entfernung entdecke ich die Silhouetten von vier Menschen, an denen ich mich gleich werde vorbeidrängen müssen.
Panik!
Kurz scheint mich mein Mut zu verlassen und mein Herz schlägt mir bis zum Hals, während ich mich aufgrund der heranrückenden Gefahr mit dem Rücken an eine Häuserwand drücke.
Als diese wilde Horde aus einem Rentner- und einem Liebespaar endlich an mir vorbeizieht, schnappe ich unter der Atemmaske nur noch röchelnd nach Luft und der Schweiß steht mir auf der Stirn.
Geschafft!
Doch dann das befürchtete und in allen FB-Kommentaren angekündigte Bild des Grauens: Mehr als 150 Leute stehen vor der beliebtesten Eisdiele Osnabrücks und halten nicht den vorgeschriebenen Sicherheitsabstand von 1,5 Metern ein, sondern nehmen sich einfach die Frechheit heraus, die Vorschrift ungefragt zu verdoppeln oder gar zu vervierfachen.
Auf dem Weg über die Krahnstraße zum Nikolaiort bleiben mir zum Glück weitere Begegnungen der dritten Art zunächst erspart. Auf dem Nikolaiort angelangt, dann ein schier entsetzlicher Anblick, der einem das Blut in den Adern gefrieren lässt: Hier wimmelt es von fast einem Dutzend Menschen, als wäre man auf dem Times Square oder zumindest auf dem Kattenvenner Viehmarkt gelandet.
Die Läden, die geöffnet haben, scheinen ihre Kunden in den von draußen nicht einsehbaren Winkeln und Ecken der Geschäftsräume geschickt zu verstecken. Todesmutig biege ich gegen 17.10 Uhr hinter Schäffer in die Große Straße ein und dann geschieht das, wovor ich mich schon in meiner letzten Kolumne so gefürchtet habe: Es passiert das absolute Nichts.
Ich betrete den menschenleeren Schuhladen Reno mit anfänglicher Ehrfurcht – keine Kunden, kein Personal. Nur ich mit all diesen komischen Schuhen, die heutzutage eher nach Plastik als nach Leder riechen. Nichts wie raus hier!
Schiffbrüchig wanke ich zum nächsten größeren Laden. Woolworth (Wulle) liegt gleich nebenan und hat ja auch geöffnet. Kaum nähere ich mich der Eingangstür, rollen mit der Urgewalt eines verheerenden Tsunamis zwei Kundinnen auf mich zu und ich kann mich gerade noch rechtzeitig in Richtung Bücher Wenner in Sicherheit bringen.
Das war knapp!
Vorher komme ich an der Osnabrücker Filiale der Drogeriekette Müller vorbei, wo man sich offenkundig derartig verbarrikadiert hat, dass kein Kunde mehr den Weg hinein oder hinaus findet. Ob Personal anwesend ist, kann ich nicht überprüfen. Es passiert einfach nichts. Clevere Idee.
Dann der Höhepunkt des heutigen Tages mit einem Happyend: Bei Wenner ist neben einigen Kunden auch Personal vorhanden und ich habe die Gunst der Stunde genutzt und mir zwei Bücher von mir selbst gekauft.
Warum?
Weil ich Bücher oder Filme ohne Happyend hasse. Meine Bücher enden immer mit einem und eins sogar mit fünf Happyends.
Und damit dieser anstrengende, gefährliche und durch viele Unwägbarkeiten geprägte Tag bei all seiner philosophischen Leere des Seins ein glückliches Ende findet, breche ich an dieser positiv besetzten Stelle einfach ab und erspare uns allen den abschließenden Gang nach Canossa, zum Neumarkt also, zumal dort niemand mehr an ein glückliches Ende glauben mag.
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