Liebe Leserinnen und Leser,
sicherlich haben sich die entsetzlichen Bilder und ungeschönten Schilderungen meines ersten Berichts „Totales Chaos in der City von Osnabrück“ vom 23.04.2020 über die unhaltbaren Zustände in der Osnabrücker Innenstadt auch bei Ihnen tief ins Gedächtnis eingebrannt und Sie seither nicht mehr ruhig schlafen lassen.
So ist es kein Wunder, dass der folgende Bericht zwar bereits am vergangenen Donnerstag erstellt wurde, am 07.05.2020 also, aber heute erste veröffentlicht werden kann, denn selbst der hartgesottenste Reporter muss solch erschütternden Eindrücke erst einmal sortieren, erneut aufrufen und dann in Ruhe sachlich verarbeiten.
Zudem steht die ganze Hasepost-Redaktion noch immer unter Schock und hat sich erst nach langen internen Debatten dazu durchringen können, meinen Bericht, allein der Wahrheit zuliebe, eins zu eins zu veröffentlichen.
Wenn Sie Nerven wie Abschleppseile haben, dann lesen Sie jetzt bitte weiter, doch stellen Sie sich seelisch auf Bilder und Schilderungen wie aus Sodom und Gomorrha ein – ohnehin das Synonym für Osnabrück und Münster …
Bei meiner heutigen Wiederholungstour nehme ich nicht wie vor 14 Tagen das Fahrrad, sondern meine schwarze Stretchlimo, denn als Fahrradfahrer im coronabehafteten Risikoalter hat man in Osnabrück keine Zukunftsaussichten.
Es ist 16.29 Uhr und mit schweißnassen Händen nähere ich mich meinem Lieblingsparkplatz neben der Dominikaner Kirche, der nachweislich schönsten Teerlunge der Stadt. Zum Glück finde ich trotz der Ausmaße meines Ford KA eine letzte schattige Stelle, denn von den 70 vorhandenen Parkplätzen, waren nur noch 57 frei.
Nachdem ich meine FFP2-Maske, die mehrfach sterilisierten gelben Latexhandschuhe und meine Schweißerbrille aufgesetzt habe, die ich alternierend zur Tauchermaske mit Schnorchel trage, schmeiße ich mich nach Überquerung der Bierstraße in das Getümmel auf der Großen Gildewart, wobei ich fast ein Fahrrad umrenne, das nur lose und unangekettet ordnungswidrig an einem Laternenpfahl lehnt.
Schon von Weitem ist von irgendwoher irres Lachen zu hören, dann schießt wie aus dem Nichts ein Kind auf einem roten Dreirad aus einer Einfahrt hervor. Nur zwölf Meter weiter und es hätte mich mit voller Wucht erwischt. Panikartig eile ich in Richtung Hasepostredaktion …
… um dort eine noch schlimmere Überraschung zu erleben. Ein zu Pappmaché erstarrter Anwalt, der sich für einen Ehrenbürger hält, stiert mich blöde grinsend an. Zwar hat ihm irgendwer mittlerweile den Mund verboten, doch drehe ich instinktiv wieder ab, um mich diesem gleichzeitig mitleiderregenden wie mitleidheischenden Anblick zu entziehen.
Um 16.37 Uhr biege ich in die um diese Tageszeit gewohnt belebte Hegerstraße ein. Inmitten des Trubels winkt mir aus der Ferne ein einsamer Künstler entgegen, mein Freund Thomas Jankowski, der trotz Coronakrise noch bei Verstand ist und bislang wider Erwarten beide Ohren behalten hat.
Ich verweile dort ein wenig und gebe ihm wie immer ein paar entscheidende Tipps: „Eine Gitarre hat zwar meistens sechs Saiten, aber eben nicht jede!“
Zum Dank erhalte ich dieses Mal kein Lunchpaket, sondern nur den spröden Hinweis, es gebe auf der Wegstrecke mittlerweile genügend Versorgungsmöglichkeiten. Als nach einer Viertelstunde ein dreibeiniges Pärchen (siehe Foto unten) an uns vorbeihüpft, wird es mir zu hektisch und ich setze mich in Richtung Fontanella wieder in Bewegung – aufgrund der schrecklichen Erfahrungen vom letzten Mal zwar zunächst nur zögernd, doch dann geradezu wild entschlossen. „Du schaffst das, Kalla!“, rede ich mir Mut zu.
Mein aufkeimender Enthusiasmus wird jäh unterbrochen: Wie schon vor zwei Wochen trügt der erschütternde Eindruck nicht: Fast nirgendwo wird der Sicherheitsabstand konsequent eingehalten.
Ein Rentnerehepaar, das mir schon beim letzten Mal sehr negativ aufgefallen ist, sitzt dicht an dicht und händchenhaltend links auf einer Bank und eine Frau wahrt auf halber Strecke zu ihrem Straßenhund nicht einmal einen Meter Abstand.
Was nützen da all die Appelle an die Vernunft der Bevölkerung, wenn selbst die einfachsten Dinge und Verhaltensregeln ignoriert werden?
Am Eingang zum ehemaligen La Vie halte ich inne. Ich brauche einfach eine Pause. Zu tief sitzt die Enttäuschung über meine anstandslosen Mitbürger und viel zu eng die Schweißerbrille.
Doch so leicht gebe ich nicht auf! Denn nun wartet der erste echte Härtetest auf mich:
Die immer wieder beschworene und überall vorhergesagte kilometerlange Schlange vor Fontanella!
Der Skandal war nun nicht mehr aufzuhalten. Mit der Laserkamera messe ich die Abstände auf einen Zentimeter genau … und nun sehen Sie selbst! Der Herr hinter dem rechten roten Pfeil tut so, als wisse er von nichts, und verschränkt sogar teilnahmslos die Arme, als gehöre er gar nicht dazu. Ich informiere natürlich umgehend die Polizei, die ihn und einen in der Nähe lauernden Komplizen sofort abführt. Am rechten Bildrand ist übrigens das Ende der endlos langen Schlange zu erkennen.
Wenige Meter weiter dann vor Leysieffer das große Durchatmen. Ein Ehepaar, ich habe die Polizei extra gebeten, die Papiere genau zu überprüfen, holt sich zwei Eis, die es vorher korrekt per Handy bestellt hat.
So und nicht anders sieht eine wirklich domestizierte Schlange aus! Bravo! Vor lauter Rührung spendiere ich im Überschwang der Gefühle den beiden sogar jeweils eine zusätzliche Kugel Eis. Jeden Tag eine gute Tat!
Mittlerweile marschiere ich, per Handy stets mit dem Ordnungsamt verbunden, Richtung Nikolaiort. Da ich immer wieder von netten, aber nervenden Bekannten aufgehalten werde, ist es mittlerweile 17.28 Uhr, als mich plötzlich zwei Passanten nötigen, mich unter die Arkaden zu flüchten, um ihnen nicht direkt in die Arme zu laufen.
Am Nikolaiort wendet sich der schier unaufhaltsame Passantenstrom schlagartig von mir ab, offenbar zeigen Schweißerbrille und gelbe Latexhandschuhe in Verbindung mit der FFP2-Maske eine ungeahnte, aber durchaus gewünschte Wirkung.
In der von unbegleiteten deutschen Jugendlichen völlig überfüllten Großen Straße haben zwei Übeltäter in panischer Flucht vor den Ordnungshütern sogar ihre schwarzen Augenbalken verloren, die nun einsam und verlassen auf dem Pflaster liegen. Was für ein trauriger Anblick …!
Kurz beobachte ich das stürmische Treiben bei Reno. Zuvor bitte ich allerdings eine wirklich entzückende Verkäuferin, ein Stück beiseite zu treten, um das vom Kaufrausch des Publikums entstandene Wirrwarr optisch ein wenig zu entflechten.
Hier hat sich während der letzten zwei Wochen definitiv nichts verändert.
Bei Wulle herrscht allerdings zweihundert Prozent
mehr Andrang als bei meinem vorangegangen Kontrollgang. Zwei Kunden auf einen Schlag, das müssen die Dame an der Kasse und ich erst einmal verarbeiten.
Ein Sonderlob geht wieder einmal an das Drogeriekaufhaus Müller, dort hat man zwar die von mir bevorzugten orangefarbenen Barrikaden vor dem Eingang etwas voreilig abgebaut, doch die beiden Ladendiebe halten vorbildlich Abstand.
So geht Corona!
Bravo, Müller!
Wie schon vor zwei Wochen gerät bei Bücher Wenner der Besucherstrom ein wenig außer Kontrolle.
Sechs Kunden auf einem Foto, das ist zwar absoluter Coronarekord, widerspricht aber gegenüber der Konkurrenz ein wenig den Anstands-, wenn auch nicht den Abstandsregeln.
Es ist mittlerweile 17:53 Uhr und ich mache mich auf den Weg zum Neumarkt. Ein Foto von der Großen Straße gibt es heute zum Glück nicht, weil ich sonst befürchten müsste, dass die ein oder andere unbegleitete Jugendgruppe in nächster Zeit nicht den vorgeschriebenen Sicherheitsabstand zu mir einhalten würde. Und so nähere ich mich unaufhaltsam dem Glanz- und Schmelzpunkt großstädtischer Baukunst und Exklusivität, unserem geliebten Neumarkt.
Dort entdecke ich zu meiner großen Freude auch die rot-weißen Absperrgitter wieder, die ich seit Fertigstellung eines Baustellenabschnitts an der Bramscher Straße so sehr vermisse.
Allein die farblich genaue Abstimmung mit dem Bus im Hintergrund sind ein einzige Augenweide, die nur noch von der bizarren und ästhetisch gelungenen Kabelführung der seit ewigen Jahren provisorischen Ampelanlage übertroffen wird.
Doch erst das beschauliche Grün auf der linken Seite und die nicht im Foto zu sehende Außenstelle des Neustädter Freibads, im Volksmund längst Klein-Moskau genannt, macht den Neumarkt zur wahren Rundumwohlfühloase unserer Stadt. Auf diesem Abenteuerspielplatz für Groß und Klein bleiben keine Wünsche offen.
Hier lässt es sich leben!
Hier lässt es sich atmen!
Es ist mittlerweile 17:59 Uhr. Der sowohl erheiternde wie mutmachende Anblick des Neumarkts und dessen an totaler Perfektion grenzender provisorischer Zustand überschatten alle zuvor gemachten negativen Eindrücke und ich habe urplötzlich das Gefühl, Osnabrück ist allen Unkenrufen zum Trotz für den zu erwartenden Ansturm der nächsten Tage nicht nur gewappnet, sondern auch gerüstet.
Ich bin mir sogar sicher, wir schaffen das, denn auch hier gilt: Nur die Zukunft ist gewiss!
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