Die schöne neue Welt hässlicher Männer
Der Tübinger Oberbürgermeister ist die letzten Jahre immer wieder durch Äußerungen aufgefallen, die man eher beim Pegida-Ehemaligentreffen oder beim sächsischen Kameradschaftsabend von“Pro Chemnitz“ verortet hätte als bei den Grünen.
„Ich sage es Ihnen mal ganz brutal. Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären“, verkündete Boris Palmer bildungsfern im noch bildungsferneren Frühstückfernsehen von SAT1. Dass Palmer hellseherische Fähigkeiten besitzt, ist ja nichts Neues: Er verkündete schon vor Jahren den Untergang des Abendlandes.
Was aber steckt hinter seinen neuesten, allein ihm vorbehaltenen Erkenntnissen?
Die Antwort fällt einfacher aus, als man hoffen möchte: Er unterscheidet nämlich mit seinem Kommentar zwischen wertem und unwertem Leben und denkt schamlos über eine Wiedereinführung der Euthanasie nach, womit er bei dem ein oder anderen schlichten Gemüt eines Sozialdarwinisten sogar offene Türen einrennen dürfte.
Und Jakob Augstein springt ihm auf Twitter in der ihm eigenen Manier aus provozierendem Wahnwitz und purer Dummheit sofort zur Seite: „Leben ist nie der höchste oder gar der einzige Wert einer Gesellschaft – und unserer schon gar nicht. Darauf kommt auch jeder, der ganz kurz nachdenkt. Aber in dieser Krise beherrscht eine schlichte Vulgärethik den Diskurs. Liegt das am Netz?“
Nun, da hat wohl jemand tatsächlich nur ganz kurz nachgedacht und etwas länger auf der Internetleitung gestanden. Die Offenheit, mit der diese beiden aufgeblasenen Wichtigtuer ihren Mangel an Empathie in aller Öffentlichkeit ausposaunen, lässt einem das Blut in den Adern gefrieren. Anscheinend meinen sie es ernst und wollen zukünftig darüber entscheiden, welches Leben erhaltenswert ist und welches nicht. Als Blaupause für ihre ureigene Vulgärethik kann dann ja Himmlers Euthanasieprogramm dienen.
Ab wann ist ein Leben eigentlich lebenswert, ihr beiden Schießbudenfiguren? Es gab und gibt schon immer Leute, die meinen, in wertes und unwertes Leben unterscheiden zu können – denken wir nur an die widerlichen Kommentare einiger deutscher Herrenmenschen bezüglich der vielen im Mittelmeer ertrinkenden Flüchtlinge.
Und es gab und gibt immer wieder Leute, die meinen, von höheren Werten schwadronieren zu müssen. Mit Vorliebe sind das Diktatoren augsteinschen Ausmaßes, die sich wünschen, dass ihre Untertanen für diese imaginären höheren Werte ihr Leben opfern – ein höheres Wesen mit Stehplatzgarantie im Himmel ist dann zumeist auch nicht mehr weit.
Und nun wollen Sie beiden Trottel über den von Ihnen geäußerten Wahnwitz auch noch „fair“ diskutieren? Als Boris the Spider und der billige Jakob vielleicht? Mit wem? Mit den von Ihnen Todgeweihten? Na, dann viel Vergnügen, aber auf einem Friedhof herrscht nun mal Grabesstille. Ich weiß das, ich wohne direkt gegenüber vom Hasefriedhof.
Wie wäre als Diskussionsgrundlage Aldous Huxleys Roman „Schöne neue Welt“ von 1932? In der dort beschriebenen Wohlstandsgesellschaft geschieht das Altern unmerklich. Die Lebenszeit ist allerdings auf 60 Jahre begrenzt. Bis dahin bleiben die Menschen vital, sterben dann aber sehr schnell und schmerzlos im „Soma“-Halbschlaf.
Wäre geistige Frühvergreisung ein Maßstab für das Altern, dann wären Sie beide also schon längst tot. Keine gute Lösung, oder?
Euthanasie-Szene aus dem Film „Soylent Green“
Eine andere Alternative, die dem grünen Untoten Palmer sicherlich eher zusprechen dürfte, bietet sich in dem Film von 1973 „Soylent Green“ an. Er spielt im New York des Jahres 2022. Die Stadt hat 40 Millionen Einwohner, die meisten Menschen sind ohne Arbeit. Ihre Nahrung besteht aus diversen synthetischen Substanzen, von denen keiner weiß, was es ist. Also ähnlich wie heute schon.
Eines Tages erfährt der Polizist Thorn zufällig, dass das populärste Nahrungspräparat Soylent Green aus Menschenfleisch besteht, das zuvor auf Demonstrationen von Schaufelbaggern lebend eingesammelt wurde.
Menschliche Freilandhaltung also ganz im Sinne von Boris Palmer und sicherlich würde ihm auch die ökologisch einwandfreie Schlussszene gefallen, in der sich Thorns Freund Sol zum Freitod in eine Sterbeklinik begibt, in der ihm zur Belohnung alte Filmszenen von einer einst heilen Natur gezeigt werden, unterlegt mit klassischer Musik von Beethoven und Grieg, bevor er in diesem fast geschlossenen Ökokreislauf zu Soylent Green verarbeitet wird.
Diese schöne neue Welt würde ich nicht einmal Ihnen beiden gönnen …
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