Wir haben wahrlich schwierige Zeiten. In meinem geliebten Berlin gab es am Mittwoch bürgerkriegsähnliche Zustände, wie konnte es bloß soweit kommen?
Ein Kommentar von Wolfgang Niemeyer
Fällt den Verantwortlichen in Politik und Verwaltung gar nichts besseres mehr ein, als mit geballter Staatsmacht auf die Durchsetzung ihrer Beschlüsse und Verordnungen zu drängen? Ist ihnen eine Reflektion und objektive Bewertung der Folgen ihres drakonischen Handelns mittlerweile obsolet, fühlen sie sich gottgleich und jenseits jeglicher irdischer Gerichtsbarkeit? Ich habe an dieser Stelle in den letzten Monaten oft an den gesunden Menschenverstand appelliert, ich habe darauf hingewiesen, daß das Offenlassen der Gastronomie ein Lösungsansatz für den Umgang mit der Pandemie sein könnte. Meine Worte wurden von höherer Stelle nicht erhört, wahrscheinlich nicht einmal wahrgenommen. Ich beklage mich nicht, ich habe dergleichen geahnt.
Doch ich möchte gerne noch ein paar Dinge anmerken, in meiner unfreiwilligen sozialen Isolation nehme ich mir einfach mal das Recht dazu heraus. Liebe Leute, liebe Politiker, liebe Ordnungsbeamte, liebe Polizisten, liebe Staatsbedienstete, die ihr in diesen Tagen für die allgemeine Ordnung und den geregelten Gang der Dinge sorgt: ist das, was wir zur Zeit erleben, überhaupt erstrebenswert? Soll so die neue Normalität aussehen, die ihr nun regelmäßig mit reichlich aufgeblasenem Showcharakter und wortreich beschwört? Ihr werdet nach der Pandemie ein gespaltenes Land vorfinden, ein Land der Angsthasen, der Staatsgläubigen, der Staathasser, der Gleichgültigen. Aber kein Land mehr der mündigen Bürger. Die habt ihr bei euren Maßnahmenpaketen außen vor gelassen. Die scheint es in euren Überlegungen gar nicht mehr zu geben. Die haben ausgedient, die gab es vielleicht mal in der guten alten Zeit vor Corona, mit Ablaufdatum 17. März 2020. Jetzt ist alles anders, jetzt muss ohne Rücksicht auf Verluste durchgegriffen werden. Verantwortungsbewusstes Regieren sieht anders aus!
Ich hätte es begrüßt, wenn ihr das Volk miteinbezogen hättet in eure Überlegungen, wenn ihr wenigstens ein kleines bisschen auf seine Stimme gehört hättet. Denn das Volk ist nicht per se schlecht, es hat bloß, grade in Deutschland, in den letzten Jahrhunderten einige schlechte Erfahrungen mit den ihnen aufoktroyierten Staatsoberhäuptern gemacht. Habt also ein gewisses Verständnis für ein grundlegendes Misstrauen gegenüber jeglicher Form von staatlicher Gewalt. Versucht nicht, mit reichlich Kohle und übereilten Gesetzesänderungen den mündigen Bürger ruhigzustellen. Genießt doch einfach die Meinungsvielfalt in diesem Land und stellt euch der Kritik am Krisenmanagement. Und macht bitteschön aus Deutschland nicht die kleinste Demokratie der Welt. Wir haben, zumindestens nach der Zahl der Abgeordneten, das größte Parlament auf Erden. Da mag doch ein wenig Diskurs erlaubt und sogar nötig sein. Wir alle haben in diesem schrecklichen Jahr erlebt, wie einfach es ist, alles stillzulegen und mit Verweis auf höhere Ziele für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Doch wir alle sollten auch dafür Sorge tragen, daß uns diese Ruhe und Ordnung nicht irgendwann um die Ohren fliegt. Denn der Mensch ist letzten Endes ein schwieriges Wesen. Was er gestern noch schwärmerisch umjubelt hat, das mag ihm morgen schon dubios und verbrecherisch vorkommen. Wehret den Anfängen. Demokratie ist großartig und womöglich die einzig erstrebenswerte Lebensform. Lasst sie uns gemeinsam leben, mit allen Vor- und Nachteilen. Manchmal helfen Apelle mehr als Verbote und schaffen das nötige Vertrauen und Verständnis, besonders in schweren Zeiten.
Vielleicht ist diese Erkenntnis das einzig Gute, was wir aus dieser beschissenen Pandemie in die Zukunft mitnehmen. Und stellt endlich die Wasserwerfer ab, sie geben nur denen Recht, die unsere Demokratie aus vollem Herzen ablehnen. Zudem sorgen sie für unschöne Bilder, die man doch ansonsten gerne vermeiden möchte. Obwohl: eine kalte Dusche kann auch Wunder bewirken. Sie macht den Blick frei und reinigt den Körper von Viren aller Art. Also genau das, was wir derzeit brauchen.
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Weiterlesen: Der obige Kommentar hat am Freitag für heftige Kontroversen auf Facebook gesorgt. Daniel Hopkins hat daraufhin am Samstag seine Sicht der Dinge in einem Kommentar auf HASEPOST veröffentlicht.
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Titelfoto: Hammed Khamis, 18.11.2020, Berlin