Ein Appell an den vernünftigen Umgang mit der Corona-Krise
Ein Gastkommentar von Christian Hardinghaus
Ruhig und entschlossen verkündete der französische Präsident Emmanuel Macron am 16. März seinem Volk die Mobilmachung. »Wir befinden uns im Krieg, einem Gesundheitskrieg, ganz sicher. Wir kämpfen weder gegen eine Armee noch gegen eine andere Nation, aber der Feind ist da, unsichtbar, flüchtig und auf dem Vormarsch. Und das erfordert unsere allgemeine Mobilisierung. Wir befinden uns im Krieg.«
Einen Tag später erklärte Ähnliches, aber mit weniger Poesie der amerikanische Präsident Donald Trump: »Unser großer Krieg… Es ist ein medizinischer Krieg. Wir müssen diesen Krieg gewinnen. Das ist sehr wichtig.«
Beide Staatsoberhäupter verglichen den Kampf gegen das Corona-Virus mit Krieg und benutzten soldatische Termini. Bei Trump ist das weder neu noch verwunderlich. Macron konnte mit seiner Rede zwar nach Umfragen an Beliebtheit gewinnen, doch so richtig halten sich weder Franzosen noch US-Bürger an die verordneten Maßnahmen. Am 18. März wandte sich die Kanzlerin einer weiteren großen Kriegsnation des 20. Jahrhunderts an ihr Volk. Angela Merkel weiß, dass martialische Ansprachen und Vergleiche mit Kriegen schon lange nicht mehr ankommen in unserer Gesellschaft. Dennoch benutzte auch sie immerhin eine Analogie zum Zweiten Weltkrieg, dem schlimmsten Krieg der Menschheitsgeschichte, dessen Ende sich dieses Jahr zum 75-jährigen Male jährt. Wörtlich sagte die deutsche Regierungschefin: »Es ist ernst. Seit der Deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung an unser Land mehr, bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankommt.«
Merkel kommt nicht an
Den Vergleich mit Kriegen nutzten alle drei, um zu verdeutlichen, wie bedrohlich die Pandemie ist und in der Hoffnung, dass durch dieses drastische rhetorische Mittel die Menschen freiwillig zu Hause bleiben und ihre sozialen Kontakte so stark runterfahren, dass das Gesundheitssystem nicht kollabiert. Doch die Kriegsansagen und Vergleiche fruchten nicht. Hierzulande nutzen Menschen von Flensburg bis Garmisch-Partenkirchen das Frühlingswetter für Spaziergänge und Treffen im Park, Jugendliche feiern ausgelassen ihre unerwarteten Schulferien im Freien oder organisieren extra Corona-Partys. Zu viele Teile der Bevölkerung haben offenbar keine Angst bekommen, fühlen sich nicht wie im Krieg. Merkels Message ist nicht angekommen, weil sie selbst nicht mehr ankommt. Ähnliches gilt vermutlich auch für Macron und Trump. Ich persönlich empfand die Ansprache der Kanzlerin im Ton fast einschläfernd und inhaltlich leer. Ich hörte nur Phrasen und Worthülsen, aber keine Lösungswege. All die verunsicherten Gastronomen, Buchhändler, Bäcker, Frisöre oder selbstständige Künstler, die nun aufgrund der Maßnahmen ihrem Gewerbe nicht mehr nachgehen können, bekamen keine Antworten. Nach all den unter ihrer Amtszeit nicht gelösten oder neu entstandenen Krisen und mit ihren immer gleichen Mantren wirkt sie auf mich überflüssig und nicht selbstkritisch bezogen auf sich selbst und ihre wacklige Regierung. Dabei wird diese seit vielen Jahren von Medizinern aller Sparten gewarnt, dass durch massive Einsparungen Engpässe in der Gesundheitsversorgung entstanden sind. Wissenschaftler warnten die Regierung auch schon mit Ausbruch der Pandemie Ende des letzten Jahres in China und danach fortlaufend mit Nachdruck, doch in der deutschen Politik war man über viele Wochen mit Verhandlungen und Streitigkeiten über die Thüringer Landtagskrise beschäftigt, die heute im Vergleich komplett absurd und albern wirkt.
Vorurteile sind resistenter als Viren
Einige aber, so versicherte man mir im Bekanntenkreis, beeindruckten die Worte der Kanzlerin, und solange sie so die Krise ernst nehmen, soll es gut sein. Schaffen müssen wir es letztendlich selbst heraus, das wissen alle, retten müssen wir uns selbst und wir werden uns auch selbst wieder auf die Beine stellen müssen. So viel ist sicher, die Corona-Krise werden wir überwinden, ob mit Gottvertrauen, Merkelvertrauen oder Vertrauen in uns selbst. Das Virus werden wir besiegen, einen Impfstoff finden, aber die Folgen dieser Krise werden unser Land, unsere Gesellschaft verändern. Sie werden es auch müssen. Wir erleben keinen tatsächlichen Krieg, aber wir werden eine harte und anstrengende Nachkrisenzeit durchmachen. Ich habe das Gefühl, dass nicht erst Corona unsere Gesellschaft krank gemacht hat. Wir leiden seit vielen Jahren an anderen Symptomen, die wir behandeln werden müssen. Und die Genesung wird länger dauern. Denn die Dutzenden Vorurteile, mit denen sich die Menschen in diesem Land immer häufiger gegenseitig anstecken, sind viel resistenter, als es ein Virus je sein könnte. Wie tief sie sitzen, werden spätestens an dieser Stelle einige Leser merken, die sich fragen, ob der Autor jetzt die Corona Krise relativiert, oder andere sich darüber aufregen, dass er im letzten Satz nur die männliche Form für die Ansprache der Leserschaft benutzt hat. Überhaupt, die unglaubliche Angst davor, ein Problem relativieren zu können, wenn man ein anderes anspricht oder die falschen Worte zu wählen, die nicht politisch korrekt sein könnten, lähmen uns seit Langem, reißen den notwendigen gesellschaftlichen Zusammenhalt auseinander, generieren Hass und Hetzte und Hass und Hetze gegen Hass und Hetze. Es sind Auswüchse und Symptome einer Unsicherheit, die Menschen befällt, die kein Vertrauen mehr haben in ihre Regierung. Weitere Symptome, die daraus resultieren, sind Ängste vor Kontrollverlust und vor dem Zukurzkommen. Nichts scheint dieser Tage wichtiger, als genügend Toilettenpapier, Mehl, Nudeln, Haferflocken und Flüssigseife zu bunkern. Dafür nimmt der verängstigte Bürger »Notlügen«, Beleidigungen und selbst Rangeleien vor den Regalen in Kauf. Politisch inkorrekt könnte man dieses schwer erklärliche Verhalten als hysterisch bezeichnen. In meinem eigenen Verhalten ist mir Hysterie unbekannt. Ich beobachte sie aber seit einigen Jahren bei immer mehr Menschen um mich herum ausbrechen, vor allem in sozialen Netzwerken. Unfähige, unsichere, unentschlossene Politiker befeuern die Hysterie genauso wie nicht wenige Medien, die mit der Aufrechterhaltung eben dieser Geld verdienen. Wie gesagt, die Hysterie war lange vor Corona da. Die Vernünftigen unter uns versuchten in vorangegangenen Krisen schon vergeblich zu beruhigen, indem sie zu erklären versuchten, dass nicht das ganze Land islamisiert werde, dass nicht die Welt in ein paar Jahren dahinschmilzt oder dass nicht die Nazis erneut die Macht ergreifen werden.
Kein Mittel gegen Hysterie
Machen hysterische Hamsterkäufe Sinn? – Nein, sie sind aber psychologisch gut erklärbar. Die Panikkäufer leiden an Kontrollverlust und versuchen ihr menschliches Bedürfnis danach durch den Kauf möglichst vieler zweckmäßiger Produkte wiederzuerlangen, beziehungsweise wegzuhamstern. Ist das ein Wunder, wenn Präsidenten und Kanzler darauf bedacht sind, Parallelen zu Krieg und Katastrophen der Vergangenheit zu ziehen? Wenn mediale Liveticker schon nicht mehr warnend rot erscheinen, sondern in giftig-morbides schwarz-gelb getaucht sind? – nein, es ist die logische Folge. Kein verantwortlicher Politiker scheint in der Lage dazu zu sein, vernünftig zu erklären, worum es eigentlich geht bei aktuellen Maßnahmen wie Schulschließungen oder Sicherheitsabständen. Die Hysteriker denken längst an ihren eigenen Tod, den sozialen, wirtschaftlichen und körperlichen Tod, an ihren schmerzerfüllten Untergang, an etwas, das sie nicht kontrollieren können, und dass ihnen auch niemand helfen wird. Dabei würde es reichen, wenn Politiker und Verantwortliche nicht ständig über Katastrophen, Katastrophengebiete und Katastrophenszenarien sprechen würden, sondern über den wahren Grund für aktuell erforderliche, extreme, zeitlich mit Sicherheit aber stark begrenzte Verhaltensmaßnahmen aufklären würden. So etwas wie:
Es gibt einen neuen Viruserreger, gegen den noch niemand immun ist, der aber nicht mehr aufzuhalten ist, der aller Wahrscheinlichkeit nach auch nicht schlimmer verläuft als eine andere Grippe und gegen den man sich in absehbarer Zeit impfen lassen können wird. Der Appell, soziale Kontakte einzuschränken, soll dem Sinn dienen, dass nicht zu viele Menschen zur gleichen Zeit krank werden. Denn dann würde jeder Wirtschaftszweig kollabieren. Und da, wo Personal- und Materialmangel die bedrohlichsten Auswirkungen haben, da, wo es um Leben und Tod geht, zum Beispiel in den Krankenhäusern, da wäre ein solcher Fall eben besonders bedrohlich.
Stattdessen glauben nicht wenige unter uns, dass es nur eine Frage von Tagen ist, bis sie draufgehen werden. Medien präsentieren ihnen dahinsiechende Menschen aus China und immer mehr Särge aus Italien, ohne zwischen den verschiedenen Gesundheitssystemen oder den Gründen des Todes der Infizierten zu differenzieren. Es ist aber Aufgabe von Politikern und qualifizierten Journalisten, neutral und ausgewogen zu erklären und so zur Beruhigung beizutragen. Vielleicht braucht es mehr Psychologen in den Talkshows als Virologen, die in Sphären denken, die sich die meisten einfach nicht erklären können. Meine persönliche Empfehlung für mediale Auftritte wären Historiker, die den Menschen dann zum Beispiel darlegen könnten, wo der Unterschied zwischen einer Grippe-Pandemie und dem Zweiten Weltkrieg liegt. Zu dieser Gruppe gehöre ich und in gewisser Weise ist dies ein medialer Auftritt. Viel zu oft werden historische Parallelen zu unserer derzeitigen Politik gezogen, wo es keine gibt. Nicht zwischen Corona und dem Zweiten Weltkrieg, nicht zwischen der AfD und der NSDAP, nicht zwischen Linken und „Mauermördern“. Das alles sind hysterische Annahmen.
Jeder erleidet gerade Entbehrungen in verschiedener Art und Weise. Das sind wir in unserer Gesellschaft anscheinend nicht mehr gewohnt. In diesen Zeiten kann man von denen lernen, die selbst völlig ungewollt und unverschuldet zu einem gesellschaftlichen Feindbild geworden sind: alte weiße Männer. Ich meine so richtig alte. Mit ihnen habe ich mich im Rahmen meines Berufes viele, viele Jahre beschäftigt, ihnen zugehört, von ihnen gelernt, über sie geschrieben und war vermutlich so in der Lage, mich selbst nicht mit Hysterie anstecken zu lassen. In meinem soeben erschienenen Buch lasse ich 13 der letzten Zeitzeugen des Zweiten Weltkrieges von ihren Erfahrungen sprechen. Ausnahmsweise nenne ich den Titel, da die Buchhandlungen wegen Corona sowieso zuhaben und das Werk so heißt, wie sich die Zeitzeugen, die darin vorkommen, fühlen: Die verdammte Generation.
Leningrad und Rheinwiesenlager
Für einen SWR-Dreh besuchte ich vor zehn Tagen erneut zwei Zeitzeugen aus dem Buch, begleitet von einem der letzten vorhandenen Kamerateams, das nicht unter Quarantäne stand. Heute wäre dies schon nicht mehr möglich und ich würde es auch nicht wagen. Beide, der 99-jährige Werner und der 94-jährige Rolf, die natürlich zur Corona-Risikogruppe gehören, ließen den Termin aber auch auf Vorwarnung nicht platzen. Sie haben keine Angst vor Corona. Werner, der in den Wäldern vor Leningrad dazu gezwungen wurde, einen fahnenflüchtigen Kameraden zu erschießen, erzählte vor laufenden Kameras, wie froh er gewesen ist, als ihm der Stabsarzt im Winter 1942 mitgeteilt hat, dass er an einer tödlichen Tuberkulose erkrankt sei. „Richtig gelacht habe ich vor Glück, sodass der Arzt geglaubt hat, ich sei verrückt geworden“, sagte Werner. „So habe ich mich gefreut, von der Ostfront wegzukommen.“ Werner hat gesehen, wie Wehrmachtsoldaten hunderte gefangene Russen, die zuvor ihr eigenes Grab schaufeln mussten, durch gezielte Kopfschüsse getötet haben. Er hat beobachtet, wie Sowjetsoldaten mit Panzern über lebende deutsche Soldaten gefahren sind oder sie bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt haben.
Rolf wurde heute vor fast exakt 75-Jahren als gerade 18-Jähriger in die Ruhrkesselschlacht getrieben, um mit der Flak amerikanische Panzer abzuschießen. Zwei Wochen später landete er so in einem der 20 Rheinwiesenlager, welche die US-Armee für eine Million gefangene deutsche Soldaten errichtet hatte. Den Männern, auch Frauen und Kindern, die hier eingepfercht wurden, hatte man den Gefangenenstatus nach der Genfer Konvention verweigert. Sie wurden über Wochen nicht medizinisch versorgt und bekamen wenig bis gar nichts zu essen. Die Soldaten aßen Gras und Brennnesseln und lagen ohne Schutz vor Regen in Erdlöchern, die sie sich mit Löffeln gegraben hatten. Sie wurden so schwach, dass sie einfach, wenn es zu viel geregnet hatte, vor Schwäche im Boden versackten. Es gab Folter und Mord durch amerikanische Soldaten oder stärkere Mitgefangene. Und nebenbei hatten wohl alle Grippe, aber auch andere Infektionskrankheiten wie Ruhr, Cholera oder Diphtherie. Eine sanitäre Versorgung gab es nicht, und kein Toilettenpapier. »Mein Platz war über drei Monate an einer Latrine, also einem riesigen Loch mit Fäkalien«, erzählte mir Rolf, der beobachtete, wie geschwächte Kameraden vom Donnerbalken fielen. »Viele haben es nicht geschafft, sind vor Schwäche in die Scheiße gefallen und darin ertrunken. Ich war aber zu schwach, um dabei noch irgendetwas zu empfinden.«
Das ist Krieg. Im Krieg ist man zu schwach, um hysterisch zu sein, oder man stirbt im Gefecht, wenn man es ist. Im Krieg hat man kein Toilettenpapier und oftmals gar nichts zu essen. Bunkern tut man höchstens sich selbst, bei einem Bombenangriff in einem Luftschutzraum. Uns steht kein Krieg bevor. Mit ein wenig Rücksicht, mit einem Mindestmaß an Vernunft werden wir diese aktuelle Krise überstehen. Und meine Hoffnung ist, dass wir danach weniger hysterisch an Probleme herangehen. Die gerade benötigte Solidarität erlebe ich noch nicht in sozialen Netzwerken, aber inzwischen ganz deutlich in meiner Nachbarschaft. Ich habe das Gefühl, die allermeisten von uns haben begriffen, worum es geht und was auf dem Spiel steht. Die Menschen bieten einander Hilfe an, sie achten auf die Schwächsten, ganz unabhängig von Hautfarbe, Religion oder politischer Einstellung. So steht es im Grundgesetz, das von Menschen geschrieben wurde, die vor uns Erfahrungen mit schlimmsten Krisen und Kriegen gemacht haben. Wir sollten sie nicht verdammen, sondern von ihnen lernen. Und gerade haben wir Zeit, über sie zu lesen, und der ein oder andere Glückliche ist unter uns, der ihnen selbst noch zuhören kann. Seinen Eltern oder Großeltern. Das geht auch mit Mundschutz.
Allen Erkrankten wünsche ich eine gute Genesung. Allen Ärzten, Schwestern und dem Pflegepersonal gebührt mein tiefster Respekt. Uns allen wünsche ich, dass wir die Krise überstehen!
Das neue Buch von Christian Hardinghaus, „Die verdammte Generation“ ist jetzt im Buchhandel. Mit dem Bringdienst von Bücher Wenner kann das Buch auch trotz der Corona-Krise über diesen Link direkt nach Hause geliefert werden.
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