Ich bin über 50. Da ist das Leben zwar nicht unbedingt gelaufen, aber man wird doch merklich ruhiger. Trotzdem wünsche ich mir mittlerweile, daß die öde Corona-Zeit endet. Immer nur zu Hause sitzen und auf bessere Tage warten, die Inzidenzwerte beobachten und täglich neue oft sinnbefreite Verhaltensregeln verinnerlichen, das zermürbt auf die Dauer jeden.
Ein Kommentar von Wolfgang Niemeyer
Ich denke oft an die jungen Leute. Ihre Lebensplanung ist in den meisten Fällen wahrscheinlich komplett über den Haufen geworfen worden. Es sei denn, sie machen gerade ein Praktikum bei Biontech. Oder wollen Virologe werden. Dann mag die Situation halbwegs interessant und erträglich sein. Ansonsten wird seit Monaten neben der persönlichen Lebensplanung alles verboten, was Jugend ausmacht. Reisen, Partys, Clubbesuche, das Treffen mit Freunden. Vom Schul- und Universitätsbesuch ganz zu schweigen. Die verantwortlichen Politiker verweigern der jungen Generation beharrlich jegliche Zukunftsperspektive.
Ich glaube nicht, daß es in der Corona-Krise außerhalb des medizinischen Sektors nennenswerte Gewinner gibt. Aber es gibt viele Verlierer. Denn diese Krise hat deutlich gemacht, welche Wertigkeit die einzelnen Alters- und Berufsgruppen in diesem Land haben. Während Rentner und der öffentliche Dienst seit März letzten Jahres weiterhin ihre vollen Bezüge erhalten, müssen Gastronomie, Freizeitindustrie und der Einzelhandel bis heute verzweifelt ums Überleben kämpfen. Während Ruheständler und Menschen im fortgeschrittenen Alter die seitdem verordnete allgemeine Stilllegung des öffentlichen Lebens offensichtlich in großer Mehrzahl begrüßen, werden private Partys junger Leute von aufmerksamen Nachbarn geflissentlich gemeldet und von Polizei und Ordnungsamt brutal sanktioniert.
Jugend ist die schönste Zeit des Lebens. Wer mein Alter erreicht hat, der weiß, was ich meine. Ein erfülltes Leben kann man im Regelfall nur haben, wenn man auch eine erfüllte Jugend gehabt hat. Das scheint die Politik nicht zu interessieren. Im Angesicht der aktuellen Pandemie werden Maßnahmen beschlossen, die die Interessen der jungen Generation so gut wie nicht berücksichtigen. Wir leben in einem Land der alten Leute. Das wird sich auf absehbare Zeit bitterlich rächen. Freiheit und Fortschritt brauchen eine selbstbewusste und gut ausgebildete Jugend. Freiheit und Fortschritt brauchen junge Leute, die bereit sind, für ihre Rechte und für ein besseres Leben zu kämpfen und ihre Persönlichkeit in klaren und sicheren Strukturen weiterzuentwickeln. Unter dem Deckmantel der allumfassenden Bedrohung durch das Coronavirus haben wir Alten ihnen diese Möglichkeit genommen. Ob aus Angst, Gleichgültigkeit oder sogar mit einer gewissen inneren Befriedigung – dieser Fehler ist unverzeihlich und wird die Entwicklung Deutschlands in den nächsten Jahrzehnten prägen.
Ich hoffe, daß die junge Generation uns unser Handeln in der Pandemie verzeihen wird. Nach Dekaden ohne wirkliche Krisen, nach langen Perioden des wachsenden Wohlstands und der allgemeinen Sorglosigkeit wussten wir es einfach nicht besser. Wir sind ein Volk von vollversorgten Egoisten geworden, deren Blick nicht mehr über den eigenen Küchentisch hinausreicht. Wohlstandsverwahrlost und ohne Mitgefühl für die, die nach uns kommen. Wir sind das Land der alten Leute.
Titelfoto: „Stock im *rsch“, Pohlmann
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