Guten Abend,
an diesem Wochenende vor circa zweitausend Jahren ist der gute alte Jesus Christus am Kreuz gestorben. Auf daß die Menschen erlöst werden von allen Sünden und allem Übel. Manchmal habe ich den Eindruck, daß dieses Opfer nicht zielführend war, daß Sünden und Übel seit jener Zeit eher noch zugenommen haben und daß die Menschheit bis heute nicht verstanden hat, was Jesus eigentlich wollte. Dabei berufen wir uns doch ständig auf die christliche Wertegemeinschaft, die uns hier in Europa angeblich miteinander verbindet. Die Spanier genauso wie die Russen, die Iren wie die Griechen. Nun ist es mit einer funktionierenden Wertegemeinschaft so eine Sache. Zunächst mal sollten alle, die sich ihr zugehörig fühlen, Einigkeit darüber erzielen, was eine Wertegemeinschaft ausmacht, was ihre Inhalte sind, wo ihre Kernpunkte liegen, wo ihre Grenzen sind. Wenn ich mir das Europa dieser Tage so anschaue, dann hege ich arge Zweifel, ob uns diese Verständigung bisher gelungen ist. Dabei könnte alles so einfach sein. Der Duden definiert das Wort „Wertegemeinschaft“ als feminines Substantiv, als „durch gemeinsame Wertvorstellungen verbundene Gemeinschaft“. Das hört sich gut an, da möchte doch jeder gerne dazugehören.
Ich würde mich über mehr Gemeinschaftssinn in unserer Gesellschaft sehr freuen. Ich sehe ihn aber immer weiter schwinden, sei es auf kommunaler, regionaler, nationaler und auch auf der internationalen Ebene. Was macht uns zu Osnabrückern? Was zeichnet die Niedersachsen aus? Was ist ein Deutscher? Und was verbindet die Europäer? Und schließlich: was macht uns zu Weltbürgern? Ich fühle mich als Osnabrücker, weil ich in dieser Stadt geboren wurde, weil ich hier aufgewachsen bin und weil ich viele Jahre meines Arbeitslebens in dieser Stadt verbracht habe. Hier habe ich meine Frau kennengelernt, hier sind unsere Kinder auf die Welt gekommen, hier habe ich Triumphe gefeiert und Niederlagen wegstecken müssen, hier war ich glücklich und traurig, hier kenne ich jede Straße, viele Mitbürger, hier ist mein Stück Heimat. Mir war nie wichtig, ob meine Heimat in Niedersachsen liegt oder in Honolulu, in Nordwestdeutschland oder am Ural. Ich habe mich in erster Linie immer als Osnabrücker Patriot gefühlt, der für das Wohlergehen seiner Stadt mitverantwortlich ist. Als ich geboren wurde, vor knapp dreihundert Jahren, da gab es kein Niedersachsen, kein Deutschland, wie wir es heute kennen. Und mit dem Begriff „Europa“ konnten wir erst recht nichts anfangen. Auf unserer Weltkarte gab es noch jede Menge unerforschte Flecken, und Haselünne war für die Osnabrücker damals so weit weg wie London, Paris oder Berlin.
Es hat sich viel geändert seit jener Zeit. Die Welt ist heute rundum vernetzt, die Wege sind kurz, in ein paar Stunden sind wir am anderen Ende der Welt. Aber ich habe den Eindruck, daß die Menschheit sich trotzdem immer weiter voneinander entfernt, daß wir uns auseinander leben, daß uns die ständige Erreichbarkeit, die kurzen Wege, das erzwungene Zusammenwachsen einander entfremdet haben. Wir leben nicht in Wertegemeinschaften, sondern in Interessengruppen. Da mögen die Politiker noch so sehr den Zusammenhalt einer Gesellschaft heraufbeschwören, mittlerweile scheint sich jeder nur noch selbst der Nächste zu sein. Das vielzitierte Gemeinwohl gerät zu einem schwammigen Ideal, das jeder zu seinem Vorteil definiert und das dadurch zu einer reinen Worthülse verkommen ist. Vielleicht mag es daran liegen, daß seit vielen Jahren kein öffentlicher Diskurs mehr über unsere gemeinsamen Werte stattfindet. Die allermeisten Begriffe sind in Beschlag genommen worden von wortgewandten Öffentlichkeitsarbeitern, die durch die Erlangung der Macht über die Wörter auch die Macht über das öffentliche Denken, über unsere Lebensweise, über unser Verhalten und unser Verständnis von Gut und Böse, von Recht und Unrecht bekommen möchten. Das ist diesem Menschenschlag leider schon recht gut gelungen. Weil keine öffentliche Diskussion über unsere Wertvorstellungen, über das, was für uns wichtig ist, über die Art und Weise, wie wir unser Leben jetzt und in Zukunft gestalten möchten, mehr stattfindet, flüchten wir uns immer stärker ins Private. Wir suchen unser Seelenheil in finanzieller Sicherheit und im Kreis der Familie und der engsten Freunde. Ich will nicht sagen, daß dieses Verhalten falsch ist, es ist vor allem einfach nur menschlich. Aber eine Wertegemeinschaft kann so nicht entstehen, geschweige denn sich weiterentwickeln.
In diesen Tagen wird viel vom Kampf gegen den Terrorismus geredet. Und darüber , daß die feigen Attentate in Brüssel, Istanbul, Ankara, Paris und an zahlreichen weiteren Ecken dieser Erde uns allen gelten und unsere Wertegemeinschaft bedrohen. Ich glaube, daß sich die russische Wertegemeinschaft fundamental von der türkischen unterscheidet, daß die USA ein gänzlich anderes Werteverständnis haben als die Franzosen, daß einen deutschen Finanzbeamten wenig mit einem griechischen Rentner verbindet. Und daß jemand aus Burgsteinfurt ein gänzlich anderes Bild von sicherem Autofahren hat als jemand aus Osnabrück. Die Menschen sind nunmal sehr verschieden, jeder auf seine Weise. Das sollte uns aber trotzdem nicht davon abhalten, für eine Wertegemeinschaft der freien Völker in freien Ländern zu werben. Für eine Gemeinschaft von Menschen auf der ganzen Welt, die sich gegenseitig respektieren, sich umeinander kümmern und füreinander einstehen. Die Verständnis für Defizite beim Autofahren und im Staatshaushalt haben, die einfach auch mal ein Auge zudrücken können. So entsteht Gemeinschaft. Dem Mann, der vor zweitausend Jahren am Kreuz gestorben ist, würde das bestimmt gefallen!
Ich wünsche allen Hasepost-Lesern frohe Ostern und ein Wochenende, an dem es nichts zu kritisieren gibt. Die Hoffnung stirbt zuletzt!
Ihr
Justus Möser