Guten Abend,
ich möchte Ihnen eine kleine Weihnachtsgeschichte erzählen. Sie handelt von Osnabrück und von einer Zeit, als es noch ein wenig ruhiger zuging als heutzutage. Sie trug sich Anfang der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts zu, damals hieß der deutsche Bundeskanzler Willy Brandt. Bis Weihnachten waren es nur noch ein paar Stunden, und der kleine Michael war schon ganz schön aufgeregt. Er freute sich immer besonders auf Heiligabend, nicht nur wegen der Geschenke, sondern auch, weil dann die ganze Familie zusammensaß, sein kleiner Bruder, seine Eltern, seine Großeltern, seine Onkel und Tanten, seine Cousins und Cousinen. Vorher mußte er mit den Eltern noch schnell in die Marienkirche gehen. Das gefiel ihm meistens nicht so gut, weil es dort immer sehr voll war und außerdem ziemlich kalt und zugig. Und weil Michael noch so klein war, konnte er kaum etwas von dem verstehen, was der Pastor vorne auf der Kanzel predigte. Vor ihm standen so viele große Menschen, da kam bei ihm nichts mehr von der frohen Botschaft an. Dabei liebte er die Geschichte von dem Jesuskind in der Krippe und den Hirten auf dem Feld und den Engeln, die von einem großen Wunder berichteten. Trotzdem war er jedesmal froh, wenn der Gottesdienst vorbei war und Weihnachten endlich richtig beginnen konnte. Nachdem alle Leute zusammen „Stille Nacht, Heilige Nacht“ gesungen hatten, standen die Kirchenbesucher zusammen auf und Michael wußte, daß es nun bald soweit war. Mit seinen Eltern ging er zum Heger-Tor-Wall, Richtung Katharinenstraße. Seine Großeltern betrieben dort ein kleines Hotel, und im Speisesaal trafen sich um 18 Uhr alle, die er kannte, waren fröhlich und festlich gestimmt und feierten zusammen Weihnachten. Dort stand auch jedes Jahr ein großer Weihnachtsbaum, unter dem ganz viele Pakete lagen. Für jeden war immer etwas dabei, keiner wurde vergessen, an Heiligabend war alles perfekt. Doch als Michael diesmal die kleine Treppe in den Eingangsbereich des Hotels hochging, spürte er, daß etwas anders war als sonst. Keine Stimmen waren zu hören, keine Musik lief im Radio, kein Opa stand vor dem Speisesaal des Hotels, um ihn freudig zu begrüßen. Stattdessen saß seine Oma hinter dem Rezeptionstresen und war am weinen. Michael lief sofort zu ihr hin. „Oma, was ist denn passiert?“, fragte er sie atemlos. „Ach, mein Junge“, antwortete sie und nahm ihn in den Arm. „Opa ist heute nachmittag mit Lumpi auf dem Westerberg spazieren gegangen. Und da hat er wohl einen Moment nicht aufgepaßt, und dann war Lumpi plötzlich verschwunden. Opa ist jetzt mit Onkel Heini und Tante Monika auf der Suche nach dem Hund. Ich mache mir solche Sorgen, das glaubst du gar nicht!“ Lumpi war ein Cocker Spaniel, den seine Großeltern vor vielen Jahren aus dem Tierheim geholt hatten. Er gehörte natürlich auch zur Familie und war Michaels bester Freund. Wie oft war er schon mit Lumpi am Stadtkrankenhaus oder in den Steinbrüchen am Westerberg spazieren gegangen. Er liebte diesen Hund und fing unvermittelt ganz schrecklich an zu weinen. „Oma, was machen wir denn, wenn Lumpi nicht mehr zurückkommt? Dann brauchen wir ja gar nicht mehr Weihnachten feiern“, sagte er schluchzend. Und dann bat er seine Eltern, an der Suche nach dem Hund teilnehmen zu dürfen. Sie erlaubten es ihm, denn auch ihnen war klar, daß ein Heiligabend ohne Lumpi nicht vorstellbar war. Michael lief schnell die Bergstraße hoch und bog dann nach rechts in die Lührmannstraße ein. Er wußte, daß Lumpi dort besonders gerne spielte, vor allem am Ende der Straße, wo ein großer verwilderter Garten war. Es war sehr kalt, überall lag Schnee und hinter den Fenstern der Häuser leuchteten die Tannenbäume und die Menschen feierten Weihnachten. Michael rief ein paarmal Lumpis Namen, aber von dem Hund fehlte jede Spur. Er ging weiter Richtung Brauerei und wurde mit jeder Minute verzweifelter. Sollte Weihnachten dieses Jahr wirklich ausfallen? In seiner Verzweiflung schaute Michael hoch zum Himmel und fing an zu beten: „Lieber Gott, bitte mach, daß Lumpi wiederkommt. Dann will ich auch immer ganz brav in deiner Kirche sitzen und mir nie mehr wünschen, daß der Gottesdienst ganz schnell vorbeigeht. Das verspreche ich dir. Es wäre auch besser für Oma und Opa, weil ja sonst keiner mehr auf die beiden aufpaßt, wenn Lumpi nicht mehr da ist. Und ich habe dann auch niemanden mehr zum spielen. Bitte, lieber Gott, hilf uns doch ein bißchen.“ Michael war mittlerweile schon bis zur Bismarckstraße gelaufen. Plötzlich kam ihm eine ältere Frau entgegen. „Mensch, kleiner Mann, was machst du denn am Heiligabend um diese Uhrzeit auf der Straße? Und warum siehst du so traurig aus? Was ist denn passiert?“ Er erzählte ihr vom verschwundenen Lumpi und seiner Angst, daß Weihnachten dieses Jahr ausfallen würde. Davon, daß er den lieben Gott um Hilfe bei der Suche gebeten hatte, erzählte er ihr vorsichtshalber nichts, denn das war sein Geheimnis. „Da hast du aber Glück, kleiner Mann“, sagte die Frau lächelnd. „Bei meiner Nachbarin im Garten stand heute nachmittag ein einsamer Hund. Sie dachte, der ist ausgesetzt worden und hat ihn zu sich ins Wohnzimmer geholt. Und jetzt feiern die beiden Weihnachten. Weißt du, meine Nachbarin ist immer ganz alleine, weil ihr Mann im Krieg gefallen ist. Und deshalb hat sie den Hund auch nicht gleich zur Polizei gebracht. Sie hat ihm einen großen Knochen gegeben, und nun sitzen die beiden vor dem Tannenbaum und sie singt ihm Weihnachtslieder vor.“ Gemeinsam mit der älteren Frau ging Michael zu der Nachbarin. Als er auf ihre Türklingel drückte, ertönte von drinnen ein lautes Bellen. Die Nachbarin öffnete die Haustür und sofort konnte Michael Lumpi sehen, der hinter der Nachbarin stand, freudig mit dem Schwanz wedelte und einen riesigen Knochen im Maul hatte. Er erzählte der Nachbarin von seinen Großeltern, die ganz traurig waren und mit der ganzen Verwandtschaft nach dem Hund suchten. Dann bat er sie, Lumpi mit ihm gemeinsam in das Hotel seiner Großeltern zurückzubringen. „Da komme ich gerne mit, mein Junge“, sagte die Frau. Schnell zog sie einen warmen, dicken Mantel an und gemeinsam gingen sie zu dem Hotel seiner Großeltern am Anfang der Katharinenstraße. Lumpi freute sich offensichtlich riesig, daß es wieder nach Hause ging. Den großen Knochen trug er wie eine Trophäe im Maul vor sich her und er wedelte unablässig mit seinem Schwanz. Michaels Opa, Onkel Heini und Tante Monika waren nach erfolgloser Suche mittlerweile vom Westerberg zurückgekehrt. Der Opa fing vor Freude an zu weinen, als er Lumpi durch den Hoteleingang kommen sah. Das Weihnachtsfest war gerettet, und die Frau von der Bismarckstraße mußte natürlich noch ein bißchen mit Michaels Familie mitfeiern. Auch für sie hatte Michaels Oma schnell ein Geschenk unter den Weihnachtsbaum im Speisesaal gelegt. Es gab Bockwürstchen mit Kartoffelsalat zu essen, und alle hatten wie jedes Jahr viel zu erzählen. Michael war der Held des Abends und alle fünf Minuten mußte er sich von seiner Oma drücken lassen, weil er ihr Lumpi zurückgebracht hatte. Später am Abend ging Michael vor die Hoteltür und blickte in den sternenklaren Weihnachtshimmel. Schneeflocken fielen unablässig auf die Erde, und Michael sagte ganz laut: „Lieber Gott, vielen Dank, daß du uns Lumpi zurückgebracht hast. Ich werde jetzt immer ganz brav in die Kirche gehen und nicht mehr wünschen, daß dort alles ganz schnell vorbei geht.“ Und dieses Versprechen hat Michael seitdem auch nie mehr gebrochen. Jeden Heiligabend sitzt er in der Marienkirche und lauscht andächtig den Worten des Pastors. Und wenn die Weihnachtsgeschichte vorgelesen wird, dann hat er immer ein paar Tränen in den Augen. Und er denkt an Lumpi und seine Großeltern und die Frau von der Bismarckstraße. „Die Menschen sollten mehr füreinander da sein“, sagt er dann leise zu sich selbst. „Nicht nur zur Weihnachtszeit. Das würde vieles leichter machen!“
Ich wünsche allen HASEPOST-Lesern ein Adventswochenende, an dem es ausnahmsweise mal nichts zu mösern gibt. Die Hoffnung stirbt zuletzt!
Ihr
Justus Möser