In einer Welt, die oft bedrohlich wirkt, bietet das Musical „Alice by Heart“ von Duncan Sheik, Steven Sater und Jessie Nelson eine poetische Fluchtmöglichkeit. In der Regie von Ansgar Weigner feierte es am Institut für Musik (IfM) der Hochschule Osnabrück seine deutschsprachige Premiere. Basierend auf Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“ erzählt das Musical von Alice, die während des Zweiten Weltkriegs Zuflucht in ihrer Fantasie sucht.
Fantasie vs. Trauma
Die Bühne zeigt eine Londoner U-Bahn-Station, die sowohl Verzweiflung als auch Hoffnung symbolisiert. Mit fließenden Übergängen verwandeln sich die alltäglichen Elemente in die fantastische Welt des Wunderlands. Besonders beeindruckend ist die Verbindung von Geschichte und Fantasie, wenn historische Aufnahmen des Bombenangriffs auf London in die Handlung integriert werden. Diese Verschmelzung zeigt, wie Fantasie genutzt werden kann, um traumatische Erfahrungen zu verarbeiten.
Unter der Leitung von Martin Wessels-Behrens begleitet eine Band des IfM die Handlung mit atmosphärischen Klängen. Duncan Sheiks Musik, die zwischen melancholischen und dynamischen Passagen wechselt, unterstreicht die innere Zerrissenheit der Protagonistin Alice, die im Chaos des Krieges nach einem Ausweg sucht.
Starkes Ensemble
Laetitia Hippe überzeugt in der Titelrolle, deren Emotionalität das Publikum fesselt. Besonders im Finale zeigt sie die Zerrissenheit zwischen kindlicher Unschuld und dem verzweifelten Wunsch, der Realität zu entfliehen. Jonas Helmers beeindruckt an ihrer Seite ebenso als Alfred, Amani El-Sadek brilliert als Krankenschwester und Herzkönigin, wobei sie in beiden Rollen eine bedrohliche Präsenz ausstrahlt.
Tobias Gerisch bringt als Herzogin humorvolle Leichtigkeit auf die Bühne, ohne die Ernsthaftigkeit des Stücks zu untergraben. Pauline Weschta und Tim Stolberg als Raupe sowie Salyma Chatty als Grinsekatze ergänzen das Ensemble mit subtilen, aber prägnanten Darstellungen. Starke Darstellungen gelingen zudem Nuno Dehmel (Hutmacher), Strato Stavridis (Maus) und dem wandlungsfähigen Daniel Nothnagel (Doktor Butridge).
Brisanz durch weltpolitische Ereignisse
Das Lichtdesign von Lukas Hippe verstärkt die surrealen Aspekte des Stücks. Nebel und Lichtwechsel betonen die traumhaften und teils beängstigenden Elemente des Wunderlands, insbesondere in Momenten, in denen Realität und Fantasie ineinander übergehen. Michael Schmieders fließende Choreografie spiegelt die chaotische Schönheit des Wunderlands wider und fügt sich nahtlos in die Handlung ein.
„Alice by Heart“ ist mehr als eine fantasievolle Neuinterpretation von Carrolls Werk. Es reflektiert auf kraftvolle Weise die Rolle der Fantasie, um den Schmerz der Realität zu ertragen, und gewinnt durch aktuelle weltpolitische Ereignisse eine zusätzliche Brisanz. Das Publikum verlässt das Theater bewegt und gestärkt, mit einem tieferen Verständnis für die Bedeutung der Vorstellungskraft in schwierigen Zeiten. Die schlechte Nachricht: Alle weiteren Vorstellungen sind bereits ausverkauft. (Lesen Sie auch: Regisseur und Produktionsleiter von „Alice by Heart“ im Interview)