“Mein VAU-EFF-ELL!”
Bis der Ball wieder rollt, wird aus dem Buch “Mein VAU-EFF-ELL” jeden Samstag um 13.00 Uhr bis zum Wiederanpfiff eine Geschichte in der HASEPOST erscheinen, verbunden mit einer vom jeweiligen Autor vorgetragenen Podcast-Lesung.
“Mein VAU-EFF-ELL!” ist bei Bücher Wenner in Osnabrück für nur 10,00 € als Sonderdruck erhältlich.
Hier zu allen bereits online erschienenen Folgen, inklusive Podcast.
Kalla Wefel – Meine lila-weiß durchtränkte Kindheit
Vorwort
Udo Lattek war der erfolgreichste deutsche Vereinstrainer aller Zeiten. Er hat Franz Beckenbauer, Uli Hoeneß, Jupp Heynkes, Gerd Müller, Paul Breitner, Lothar Matthäus, Diego Maradona und mich trainiert.
Ich weiß nicht, ob er bei den Kollegen noch Schulden hat. Mir gegenüber hat er über seinen Tod hinaus seine Schulden nie beglichen.
Noch ein Vorwort
Im Jahr 1963 wetteiferten die Beatles und Schnulzensänger Freddy Quinn um die Gunst der deutschen Radiohörer. Deutschland war erst einmal Weltmeister und die Bayern nur einmal Deutscher Meister geworden. Die Bundesliga befand sich im Gründungsjahr. Das Match Beatles gegen Freddy endete mit einem in der Geschichte unvergleichlichen Kantersieg der Liverpooler.
Die Zeiten, die Musik und der Fußball waren hart und im raschen Wandel begriffen.
Jetzt geht’s los …
Zu meinem 12. Geburtstag bekam ich Fußballschuhe und Samba-Treter geschenkt. „Die Fußballschuhe sind von uns, die Samba Schuhe von Onkel Friedel“, klärte mich mein Vater auf und fügte augenzwinkernd hinzu: „Natürlich hat er dabei einen Hintergedanken gehabt.“
„Hä, wie meinst du das, Papa?“
„Das will er dir erst morgen selbst verraten. Du brauchst die Schuhe jedenfalls für die Halle, mehr weiß ich auch nicht. Du sollst morgen Nachmittag zu ihm unten ins Büro kommen, bevor du zu Frieder hoch gehst.“
„Klingt ja spannend. Du weißt doch ganz bestimmt, worum es geht, oder? Du veräppelst mich doch nur schon wieder …“
„Keine Ahnung“, log mein Vater grinsend und winkte ab. Nachhaken hatte nun keinen Sinn mehr, das wusste ich, denn dazu kannte ich ihn seit meiner Geburt zu gut.
In der Schule wurde ich mit großem Hallo begrüßt. Von den Beatles hatte außer mir noch nie jemand etwas gehört, aber die Samba Schuhe von Adidas waren zumindest Claus und Harald ein Begriff und wurden entsprechend gewürdigt: „Arschteuer die Dinger, aber der dicke Schwarze hat’s ja!“
Mit ‚der dicke Schwarze‘ war natürlich Friedel Schwarze gemeint, der, seitdem ich sprechen konnte, mein Nennonkel Friedel und der beste Freund meines Vaters war.
Er war damals der Präsident des VfL Osnabrück und wurde aufgrund seiner Leibesfülle oft nur ‚der Dicke‘ oder aber eben in Abgrenzung zum Dicken aus Hamburg, nämlich Uwe Seeler, der dicke Schwarze genannt.
Mein Vater war Mannschaftsarzt und saß über all die Jahrzehnte auch häufig im Vorstand des Vereins. Natürlich alles ehrenamtlich. Von Freunden wurde er immer nur kurz und knapp ‚Karl‘ und von den VfL-Spielern meistens ‚Doc‘ genannt.
Tante Hilde und Onkel Friedel hatten einen Sohn namens Frieder, mit dem ich mich hin und wieder zum Spielen in der Großen Gildewart 11 verabredete. Tante Hilde war eine Seele von Mensch und verwöhnte uns Kinder nach Strich und Faden. Pünktlich um 15.30 Uhr gab es Kuchen und Blümchenkaffee und manchmal kam zu diesem Anlass auch Onkel Friedel von unten kurz hoch.
Das Gartenhaus in der Großen Gildewart 11 war gleichzeitig die Geschäftsstelle des VfL, in der wir auch manchmal spielen durften, jedenfalls als wir noch kleiner waren. Am aufregendsten aber war der im Garten zum Spielen und Verrosten abgestellte Opel Olympia.
Eine merkwürdige Zeit
Auf den Tüten der Gemüsehändler im Westen stand ‚Esst mehr Obst und ihr bleibt gesund!‘. Im Osten hingegen konnte man sich diese Tüten sparen, da es ohnehin am notwendigen Füllmaterial mangelte.
Die Nierentischära hatte nicht nur die Wartezimmer der Arztpraxen oder Frisiersalons in Beschlag genommen, sie war allgegenwärtig und der Begriff ‚Arbeitslosigkeit‘ existierte praktisch nicht. Karmann produzierte rund um die Uhr.
Das Wirtschaftswunder nahm seinen vollen Lauf.
Sicherlich war Onkel Friedel mit seinem Stahlbau einer der Motoren dieses Wirtschaftswunders. Und damit die Motoren richtig laufen, müssen die Schornsteine nun mal kräftig rauchen, was Onkel Friedel auch entsprechend wörtlich nahm: Eine ‚Gold Dollar‘ aus der ovalen grünen 50er Dose oder eine Zigarre befanden sich stets in seiner unmittelbaren Umgebung und vorzugsweise bereits qualmend im Mund.
Geraucht wurde aber immer und überall und von jedem, denn Rauchen war kein Privileg von Onkel Friedel. Mein Vater rauchte immer HB, so dass ich als Kind das Gefühl hatte, Rauchen gehöre zum Erwachsensein dazu, zumindest zum männlichen. Ein Grund mehr also, lieber Kind zu bleiben.
Bis zu meinem achten oder neunten Lebensjahr saß ich bei Heimspielen stets neben meinem Vater und Onkel Friedel auf der Trainerbank. Auch dort wurde geraucht, was das Zeug hielt.
Wenn ich mich dann hustend über den Qualm beschwerte, wurde mir nur entgegengehalten, man wolle mit dem Rauch lediglich den Geruch meiner alten Windel übertünchen. Ich verdrehte dann nur gelangweilt die Augen, denn die uralte Geschichte hing mir als Kind längst zum Hals raus.
Zig Jahre zuvor soll diese Windel in der damals noch vorhandenen Weitsprunggrube hinter dem Tor mit den Kopfballpendeln, also der heutigen Westkurve, von Theo Schönhöft, dem legendären Torjäger des VfL, in der Halbzeitpause mit den Stollenschuhen verbuddelt worden sein. Mein Vater hatte mich im Alter von zwei Jahren zur Entlastung meiner an Grippe erkrankten Mutter damals zum ersten Mal zur Bremer Brücke mitgenommen, während meine beiden großen Schwestern bei befreundeten Nachbarn untergebracht worden waren.
Seit 60 Jahren Brückengänger
Ab meinem vierten Lebensjahr war ich dann fast immer dabei. Anfangs interessierte mich das Geschehen auf dem Platz kaum, aber ich konnte ja hinter dem Tornetz mit einem der Reservebälle selbst spielen. Man stelle sich nur mal vor, heute würde während eines Fußballspiels hinter einem der Tore ein Kind Fußball spielen – wahrscheinlich gäbe es vom DFB oder der DFL für den Rest der Saison eine Stadionsperre.
Mit vier, fünf Jahren durfte ich in der engen und von Schweiß und Dampf durchtränkten Umkleidekabine im Souterrain der Kreuzschule den Spielern sogar die Prämie auszahlen. Onkel Friedel drückte mir dann ein Bündel Zwanzigmarkscheine in die Hand und die Spieler stellten sich brav vor mir an und alberten dabei mit mir herum.
Walter Bulik, der nicht viel größer war als ich, stellte sich immer unter dem gespielten Protest seiner Mitspieler gleich mehrmals an.
Onkel Friedel gab mir deshalb einmal extra ein paar Fünfmarkscheine nur für Walter, so dass er sich dieses Mal unfreiwillig für jeden Fünfer neu anstellen und um die mitten im Raum stehende Massageliege herumlaufen musste. Da die Prämie vierzig D-Mark betrug, rannte er unter großem Gejohle der Mitspieler und mit von Runde zu Runde stetig nachlassendem Tempo durch den Raum, bis er am Ende nur noch auf allen Vieren kroch.
Ich habe all diese Spieler ohne Ausnahme als sehr nette Menschen in Erinnerung, doch Walter Bulik war ein ganz besonders kinderlieber Mensch, der mich stets zum Lachen bringen konnte.
Irgendwann ging es dann nach der Kabinenprozedur mit dem großen schwarzen Auto von Onkel Friedel nach Hause. Vorher aber wurden die Einnahmen und Restkarten in schäbigen alten Schuhkartons im Gepäckraum verstaut, um sie dann in der Großen Gildewart im Gartenhaus abzustellen, wo sie in einem Safe landeten.
Vom Bankdrücker zum Wandervogel
Da ich mit acht, neun Jahren nicht mehr auf der Trainerbank sitzen musste, durfte ich mich endlich im Stadion frei bewegen.
Auf der West thronte ganz oben auf dem Lehmhügel eine kümmerliche Würstchenbude – die einzige im ganzen Stadionbereich –, die selbst in der Halbzeit nur selten wirklich belagert wurde. Eine Wurst kostet anfänglich 80 Pfennig, später, mit wachsendem Wohlstand, eine Mark. Das war viel Geld und schließlich ging man zum Fußballgucken ins Stadion und nicht, um dort zu trinken oder gar zu essen – was für ein abwegiger Gedanke.
Meistens stand ich mit meinen Kumpels aus dem Verein oder aus der Schule auf den Tribünenstufen hinter dem Tor, auf das der VfL spielte. Eine Ost- oder Westkurve im heutigen Sinne gab es noch nicht, sondern nur diverse geographische Umschreibungen.
Tatsächlich fand in der Halbzeit stets die große Völkerwanderung statt, was bei häufig nur zwei- bis dreitausend Zuschauern kein Problem darstellte. Die Gästefans, damals Schlachtenbummler genannt, mischten sich im Stadion unter die Osnabrücker, von Stress keine Spur.
Während aus den völlig unterdimensionierten Drucklautsprechern Werbung wie „Beneidenswert, wer Goggo fährt!“ oder „Aus gutem Grund, nach alter Sitte, hierzulande Juno bitte!“ krächzte, machten wir Kinder uns auf den langen Marsch hinter das Tor des Gegners. Abgetrennte Bereiche gab es ohnehin nirgends. Man konnte sich im Stadion, das noch ‚Kampfbahn Bremer Brücke‘ hieß, völlig frei bewegen.
Der VfL ruft …
Neben meiner familiär bedingten Stadionkarriere spielte ich dann ab meinem zehnten Lebensjahr zusätzlich in der 1. Knaben des VfL, der heutigen D-Jugend, und hörte erst viele Jahre später in der A-Jugend auf, weil mich irgendwann Rockmusik und Miniröcke weit mehr faszinierten als Trainingseinheiten in der Kreuzzschule oder am Haster Weg.
Dabei hatten wir häufig wirklich nette Betreuer und Trainer, die mit uns Kindern umzugehen wussten, und manches Mal rekrutierten sich unsere Übungsleiter sogar aus dem Spielerkader der 1. Herren.
Besonders angenehm in Erinnerung habe ich dabei Zorro Wöbker, der uns in der 1. Schüler (heute C-Jugend) sehr gut im Griff hatte und der sich vor allem für damalige Verhältnisse uns gegenüber ungewohnt locker und fair verhielt. Sein unverkrampftes Auftreten und sein auf Spaß am Spiel beruhendes Training werde ich nie vergessen.
Zorro verkörperte eine neue Generation, die den Krieg, wenn überhaupt, nur noch als Kind erlebt hatte, und die ihn vor allem aus tiefster Überzeugung ablehnte. Ganz im Gegensatz zu einigen Ewiggestrigen, die dieser Zeit ganz offen hinterhertrauerten. An allen Ecken und Enden traf man diese lebenden Ruinen an, die nicht aufhören wollten, ihren hässlichen Krieg zu führen.
Zorro, der wahrscheinlich nur freundlicher und nicht so autoritär wie meine Lehrer am Ratsgymnasium war, punktete jedenfalls nicht nur bei mir, sondern auch bei meinen Mitspielern ohne Ende, denn er setzte neue, weil ungewohnte Maßstäbe.
Besondere Höhepunkte stellten natürlich die Vorspiele dar, die wir als ‚Knaben‘ hin und wieder auf dem heiligen Rasen der Bremer Brücke bestreiten durften, wenn große Gegner wie der HSV, Werder Bremen, St. Pauli. 96 oder Eintracht Braunschweig kamen. Sobald sich die Ränge zu füllen begannen, bekam man zumindest eine Ahnung davon, was für ein Gefühl es sein musste, vor einer solch gewaltigen Kulisse zu spielen und von ihr angefeuert zu werden.
Tanze Samba mit Udo …
Nun war es also soweit: Einen Tag nach meinem zwölften Geburtstag trat ich bei Onkel Friedel an und bedankte mich bei ihm artig für die neuen Samba Schuhe.
Soweit ich durch die dichten Rauchschwaden hindurch erkennen konnte, nickte der riesige Mann hinter dem Schreibtisch zufrieden, bevor er mit seiner extrem tiefen Stimme das für ihn viel zu kleine Büro zum Erbeben brachte: „Also, Kalli. Ich hab da so eine Idee. Du weißt ja, dass Frieder diese Behinderung an der Hand hat, so dass er in einer normalen Mannschaft kaum mitspielen kann. Deshalb habe ich mir mit deinem Vater Folgendes überlegt: Du stellst gemeinsam mit Frieder eine Gruppe aus zehn, zwölf Jungs zusammen, zu der ihr beiden natürlich auch gehört. Mit dieser Gruppe spielt ihr dann ab sofort jeden Mittwoch zwischen 15.00 und 17.00 Uhr in der neuen Sporthalle am Schlosswall Fußball.“
Mich musste man keine Sekunde bitten, wenn es ums Fußballspielen ging, das wussten auch Onkel Friedel und mein Vater, als sie diesen Plan gemeinsam ausgeheckt hatten.
„Super!“, willigte ich sofort ein. „Ist denn auch irgendein Erwachsener dabei, der aufpasst? Oder kriegen wie einfach die Schlüssel?“
Onkel Friedel grinste. „Gute Frage. Und jetzt kommt es ja erst … welchen Trainer hättest du denn am liebsten dabei?“
„Zorro natürlich, wen denn sonst?“, antwortete ich, ohne zu zögern.
„Zorro? Wieso denn das?“, erkundigte sich Onkel Friedel fast ein wenig erstaunt.
„Weil wir noch nie so viel Spaß beim Training hatten wie jetzt mit Zorro. Wirklich, Onkel Friedel, Zorro ist einfach klasse. Plötzlich kommen auch wieder fast alle regelmäßig zum Training.“
„Na, das freut mich aber für euch … und auch für Zorro. Dass der mit euch gut umgehen kann, hab ich mir schon gedacht. Zorro ist es aber nicht, denn der hätte auch gar keine Zeit für die Mittwochsgruppe.“
„Und wer macht das nun?“, erkundige ich mich neugierig.
„Also, diese neue Mittwochsgruppe hat offiziell mit dem VfL überhaupt nichts zu tun. Das ist nämlich eine reine Privatveranstaltung.“
„Wie jetzt?“
„Wie gesagt, das Ganze hat mit dem VfL nichts zu tun, dennoch braucht ihr ja so etwas wie einen Trainer. Zorro geht nicht, aber was hältst du denn von unserem Mittelstürmer Udo Lattek?“
„Udo? Ja, der ist auch klasse. Klar. Obwohl Papa immer sagt, dass Udo sich vor dem Tor nach der Ballannahme viel zu langsam dreht, dafür ist er aber klasse beim Kopfballspiel.“
Onkel Friedel grinste nickend. Das mit der zu langsamen Körperdrehung Udo Latteks vor dem Tor war offenbar schon mal auf einer Vorstandssitzung, die meistens im Ratskeller endeten, Gesprächsthema gewesen.
„Also, Kalli, schnapp dir ein Dutzend Jungs und nächsten Mittwoch geht‘s dann um 15.00 Uhr in der neuen Schlosswallhalle los. Seid aber bitte wenigstens zehn Minuten früher pünktlich zum Umziehen da.“
Es stellte wahrhaftig kein großes Problem dar, neben uns beiden noch zehn andere Jungs zu mobilisieren. In der hochmodernen neuen Schlosswallhalle mit diesen tollen Handballtoren und dem großen Spielfeld schräg gegenüber vom ‚Rats‘ Fußball spielen zu dürfen und dann noch einen VfL-Spieler als Trainer dabei zu haben, war für jeden Jungen – Mädchen gab es damals ja noch nicht – ein absoluter Traum.
Udo Lattek, der ein Jahr zuvor vom Talentspäher Heingerd Tenfelde beim VfR Wipperfürth entdeckt worden und im Mai 1962 zum VfL gekommen war, erfreute sich zudem schon im ersten Jahr seiner VfL-Karriere wachsender Beliebtheit beim Publikum, weil er sich allmählich zum Goalgetter gemausert hatte.
Neben Frieder und mir spielten ausschließlich Jungs aus unseren Freundeskreisen mit, von denen niemand außer mir beim VfL war. Onkel Friedel hatte mir noch mit auf den Weg gegeben, dass die Gruppe intern als ‚Krabbelgruppe‘ bezeichnet werde, da man in der neuen Halle kein Fußball spielen dürfe. Das war zwar purer Unsinn, denn wir hatten dort mit dem VfL bereits ein Jugendfußballturnier zu Ehren von Erich Gleixner veranstaltet, doch wurde mir schnell klar, dass irgendetwas dahintersteckte, das nicht an die Öffentlichkeit dringen sollte.
Also erzählte ich allen Interessierten die Räuberpistole vom unerlaubten und geheimen Fußballtraining unter der Regie von Udo Lattek in der tollen neuen Halle. Einen Tag vor dem ersten Mittwochstraining der Krabbelgruppe, die später fälschlicherweise von VfL-Archäologen immer wieder als ‚Gymnastikgruppe‘ bezeichnet wurde, sagte mir mein Vater, dass Udo von nun an nicht nur die Krabbelgruppe leite, sondern auch jeden ersten Mittwoch im Monat um 19.00 Uhr zu uns komme, um sich einen Briefumschlag abzuholen.
Schwarzes Geld war Schwarzgeld
Ich wusste mit meinen zwölf Jahren ganz genau, was das zu bedeuten hatte, dazu hatte mich mein Vater schon zu häufig unter dem Siegel der Verschwiegenheit in die internen Vorgänge beim VfL eingeweiht: Von nun an sollte sich Udo also jeden ersten Mittwoch im Monat einen Briefumschlag mit Schwarz- oder, besser gesagt, mit Schwarze-Geld abholen.
„Wie viel ist denn da drin?“, wollte ich wissen.
„Fünfhundert Mark … aber behalt das bloß für dich.“
Ich nickte nur. Damit war klar, dass ich darüber niemandem etwas erzählen würde, jedenfalls nicht, solange einer der Beteiligten noch lebte oder sich mit mir gemeinsam in einem Raum oder auf dem Schulhof aufhielt. Von Verjährungsfristen und Selbstanzeigen bei Steuerhinterziehungen hatte ich damals noch keinen blassen Schimmer und, ehrlich gesagt, heute auch noch nicht.
Sobald Udo wieder einmal seinen Briefumschlag bei uns zu Hause abholen wollte, schickte mich mein Vater wenigstens zehn Minuten vorher zum Spähen ans Fenster: „Los, guck mal aus dem Fenster, Kalli! Udo zieht bestimmt schon wieder draußen auf der Straße Furchen.“
Meistens hatte er recht und Udo ging, die Hände hinterm Rücken verschränkt, vor unserem Haus auf und ab. Zum Furchenziehen reichte es zwar nicht, aber fünfhundert Mark für zwei Stunden pro Woche Fußballtraining netto bar auf die Kralle, das war damals eine gewaltige Stange Geld, für die sich ein rechtzeitiges Erscheinen allemal lohnte.
Gegenüber uns Jungs trat Udo genauso locker auf wie Zorro und der Spaß- und Wohlfühlfaktor war an diesen Mittwochnachmittagen extrem hoch. Udo sprach unsere Sprache und hatte offenbar selbst viel Vergnügen an dem Training.
An dieser Stelle möchte ich mit der mir innewohnenden, fast unterwürfigen Bescheidenheit einflechten, dass ich durchaus mit dem Ball umzugehen wusste. Jedenfalls lobte Udo irgendwann für jedes geglückte Fallrückzieher-Tor sogar eine Tafel Schokolade aus.
Jawohl!
Eine ganze Tafel Schokolade!
Heute kaum vorstellbar, aber damals war das eine der härtesten Währungen auf sämtlichen Schulhöfen der Republik! Eine Tafel Schokolade entsprach zwanzig Nappos oder zwanzig Stangen Prickel Pit oder zehn Stangen Kanold Bonbons oder gar zwei kompletten Riesenportionen Pommes mit doppelt Mayo und Ketchup im Keller von Hertie.
Udo ging mit uns Kindern wirklich großartig um, war immer gut gelaunt und bei der ein oder anderen kniffligen Situation mit uns half ihm bestimmt seine pädagogische Ausbildung weiter.
Als mir an einem Mittwoch gleich zwei Fallrückzieher-Tore gelangen, teilte ich die beiden Tafeln Trumpf Vollmilch-Nuss, die Udo zuvor anstandslos in der Garderobe herausgerückt hatte, mit den anderen Jungs.
Dabei kam mir eine naheliegende Idee. „Mensch, Leute, greift mich doch beim nächsten Mal einfach nicht an, dann lege ich mir den Ball selbst zurecht und mache bestimmt viel mehr Tore. Der Torwart muss natürlich auch mitmachen und jeden Fallrückzieher durchlassen. Die Tafeln teilen wir dann später gerecht untereinander auf.“
Ein Fallrückzieher-Schuss, der nach hinten losging
Normalerweise waren wir Jungs noch wenige Jahre zuvor unbestechliche Indianer, Cowboys oder Ritter gewesen. Mit elf, zwölf Jahren entpuppten wir uns nun mit einem Schlag als ehrlose und skrupellose Gesellen, denn mein ketzerischer Plan wurde sofort einstimmig und unter großem Jubel angenommen.
Eine Woche später war es soweit. Mir gelangen sage und schreibe acht Fallrückzieher-Tore, die allerdings auch ein Hüftlahmer hätte versenken können.
Dann kam der große Augenblick der Preisverleihung …
Wir saßen kichernd in der Kabine und warteten gespannt auf die Bescherung, bevor wir uns duschen und umziehen wollten.
Mit einem heftigen Ruck sprang die Tür auf.
Udo stand mit hochrotem Kopf im Türrahmen. In der rechten Hand hielt er einen ganzen Stapel Schokoladentafeln, die er, ohne einen Ton zu sagen, mit einem gewaltigen Wurf an die steinerne Wand auf der gegenüberliegenden Seite warf. Die Tafeln zerbarsten mit dumpfem Knall in tausend Stücke.
Udo selbst zerbarst fast vor Wut und brüllte wider allen pädagogischen Grundregeln: „Glaubt ihr kleinen Arschlöcher eigentlich wirklich, dass ich das nicht gemerkt habe?! Für wie blöde haltet ihr mich eigentlich?! Das war’s mit uns! Was da hinten an der Wand klebt, sollte der Vorrat für die nächsten Wochen sein. Von jetzt an gibt es gar nichts mehr! Ist das klar?!“
Udo knallte wutschnaubend die Tür zu und verschwand.
Für ein paar Sekunden herrschte betretenes Schweigen und wir saßen oder standen alle wie erstarrt da. Als wir jedoch nach der ersten Schreckensphase zwischen Lachen und peinlichem Entsetzen allmählich die Fasson wiedererlangt hatten, sammelten wir behutsam die Verpackungsfetzen und Schokoladentrümmer ein. Nach penibelsten Rekonstruktionsarbeiten auf einer der langen Bänke stand das Ergebnis der rasch ins Leben gerufenen Untersuchungskommission ‚Eine Tafel Schokolade pro Fallrückzieher‘ fest:
Udo hatte drei Tafeln unterschlagen!
Skandal!
Drei ganze Tafeln Vollmilch Nuss!
Noch vor wenigen Jahren hätte nach einem solchen Kapitalverbrechen der Galgen oder eines der beiden Kopfballpendel vor der Westkurve auf ihn gewartet. Auch mehrmaliges Kontrollieren änderte nichts am Ergebnis der unbestechlichen Sonderkommission: Es fehlten eindeutig drei Tafeln!
Irgendwie fühlte ich mich als Rädelsführer dieser Aktion nun nicht mehr ganz so schäbig wie noch kurz zuvor nach Udos Wutausbruch, traute mich aber nie wieder, das Thema in seiner Gegenwart anzusprechen. Ich habe mich nicht einmal bei ihm entschuldigt.
Irgendwann verließ Udo den VfL, weil er von Hennes Weiswieler an den DFB als Assistenztrainer der Nationalmannschaft empfohlen und später zu einem der erfolgreichsten Vereinstrainer aller Zeiten wurde.
Die Degradierung des Fallrückzieherbetrügers zum Platzwart
Für mich reichte es hingegen in den folgenden Jahren nur zum Platzwart, für den ich in den Sommerferien hin und wieder an der Bremer Brücke als Vertretung einspringen durfte. Fünf Mark pro Stunde bekam ich dafür, damals eine ungeheure Summe. Die wöchentliche Auszahlung fand dann übrigens immer stilecht in Form einer VfL-typischen Zeremonie statt, bei der mir von meinem Vater oder Onkel Friedel ein weißer Briefumschlag überreicht wurde.
Der Job machte vor allem riesigen Spaß, da ich fast den ganzen Tag mit dem Spindelmäher durchs Stadion rasen konnte. Das war aufregender, als auf dem Jahrmarkt Autoscooter zu fahren, und ich bekam auch noch Geld dafür, statt welches bezahlen zu müssen.
Allerdings hatte ich gleich am zweiten Tag vergessen, die Mähmesser hoch zu stellen, was selbst mir irgendwann durch eine mittlerweile fast rasenbefreite, dafür aber umso stärker staubende Fläche vor der Südtribüne ins Auge stach.
Ich geriet in Panik. Es war Anfang Juli und nur einen Monat später sollte der Saisonauftakt gegen Altona 93 an der Bremer Brücke stattfinden.
Nach kurzer Überlegung fuhr ich mit dem Fahrrad ins Stadtkrankenhaus und beichtete dort alles umgehend meinem Vater. Nach einer in gewissem Sinne nicht ganz unberechtigten Strafpredigt telefonierte er mit ein paar Leuten aus der Verwaltung und delegierte schließlich eine ganze Kompanie VfL-affiner städtischer Krankenhausgärtner zur Brücke, so dass sich der Rasen bereits nach zwei Wochen wie durch ein Wunder in einem nie zuvor gesehen absoluten Bestzustand präsentierte.
Als der angestammte Platzwart wenige Tage später aus dem Urlaub zurückkehrte, staunte er am Übergabetag jedenfalls nicht schlecht, in welch perfektem Zustand ihm seine junge Vertretung den Rasen übergeben konnte.
Resümee aus einer Zeit, die kurz vor dem großen Umbruch stand
Das Ausscheiden Udo Latteks bedeutete auch das jähe Ende unserer Krabbelgruppe.
Doch es gab auch Lichtblicke: Heinrich Lübke erfand die Realsatire und im Universum-Kino lief der Beatles-Film A Hard Day‘s Night.
Die gleichnamige Langspielplatte schenkten mir meine beiden großen Schwestern zum dreizehnten Geburtstag. Mein Lateinlehrer Balfanz zog sie noch am selben Tag während des Unterrichts aus meiner Schultasche und schlug sie mir erst wutschnaubend um die Ohren und dann immer wieder auf die Tischkante, bis sie in tausend Stücke zersprang.
Das war mir eine Lehre fürs Leben: Dieser hässliche alte Mann war das Gegenteil von allem, was mir gefiel.
Er war die personifizierte Antithese zu Zorro, Udo Lattek oder den Beatles oder selbst nur zu dem, was den Gegenwert eines korrekt erzielten Fallrückzieher-Tores verkörperte. Dieser widerliche Mann in seinem hässlichen grünen Lodenmantel war es von nun an nicht einmal mehr wert, von mir ignoriert zu werden.
Fast ohnmächtig vor Wut lief ich nach Hause und zerriss sämtliche Schulbücher in hunderttausend Stücke und selbst die Beatles schrien ein Jahr später um Hilfe.
Aber ich hatte ja noch meinen VfL und der ist genauso unzerbrechlich und unvergänglich wie die Musik der Beatles selbst.
Würde ich nun zum Schluss noch erwähnen, dass ich die Beach Boys und die Kinks immer ein ganzes Stück lieber als die Beatles mochte, und dass das Ganze dennoch absolut nichts mit Peter Gabriel, Werner Biskup und dem FC St. Pauli, dafür aber eine Menge mit Brian Wilson, Gerd Volker Schock und César Luis Menotti zu tun hat, dürfte ich nur mal wieder unnötig Verwirrung stiften.
Darum lasse ich das lieber. Obwohl …?
Also, als der VfL 1968 …
… ach, vergiss es. Das ist nun wirklich eine ganz andere Geschichte …
Kalla Wefel
* 09.10.1951 in Osnabrück
Autor & Journalist
Kabarettist & Musiker