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Es ist jetzt an der Zeit, über eine strategische Neuausrichtung der Bundesrepublik nachzudenken, in einem Konflikt, in dem weder Deutschland Kriegspartei ist noch die EU oder die Nato.
Die Lieferung von Erdgas war selbst auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges niemals ein Thema zwischen den damals offen verfeindeten Blöcken. Auch nach dem Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan, dem Abschuss eines Koreanischen Jumbojets oder den zahlreichen anderen Konflikten zwischen 1945 und 1989 mit dem Land, das Ronald Reagan als “Reich des Bösen” (Evil Empire) bezeichnete, war ein Gas- oder (wie hier jetzt) ein “Pipeline-Boykott” jemals ein Thema.
Eine Kommentar von Heiko Pohlmann
Es war eine erstaunliche und gewaltige Welle der Solidarität für die Ukraine und eine Welle der Abneigung gegenüber dem Kriegsherrn Putin, mit der die westliche Welt Ende Februar auf den Einmarsch Russlands in die Ukraine reagiert hat.
Ich denke, das war gut so und zahlreiche Sanktionen – vom Rückzug von McDonalds aus dem russischen Markt bis hin zur Beschlagnahme von Oligarchen-Jachten – werden innenpolitisch gegen Putin tatsächlich Wirkung zeigen.
Die Nicht-Inbetriebnahme von Nord-Stream 2 war allerdings eine Schnapsidee, wie sich spätestens jetzt zeigt. Es wird Zeit, dass eine Diskussion über eine schnellstmögliche Inbetriebnahme geführt wird.
Der “Pipeline-Boykott”, der ohne große Diskussion und Abschätzung der Risiken durchgeboxt wurde, war eine völlig sinnlose Maßnahme, die auf der einen Seite aus öko-ideologischen Gründen den Grünen sehr leicht fiel, aus wirtschaftspolitischen Gründen von den USA angefeuert wurde und von einem unsympathischen Ukraine-Botschafter bejubelt wurde.
Für Deutschland bedeutet dieser Aktionismus nicht nur voraussichtlich einen kalten Winter, sondern auch den direkten Weg in die Rezession und innenpolitisch erhebliche Gefahren.
Von den Gegnern unserer Verfassung und der sozialen Marktwirtschaft – hart links und hart rechts – werden bereits Proteste angekündigt, jüngst erst von der Linkspartei. Können und wollen wir uns das leisten?
Selbst wenn sich die monatliche Mehrbelastung durch die explodierenden Gaspreise tatsächlich – dank neuer Hilfspakete, die allerdings auch aus Steuergeldern bezahlt werden müssen – vielleicht nur bei 100 bis 200 Euro pro Monat pro Haushalt summieren sollte, bedeutet das für Hunderttausende – bis weit in den Mittelstand – den Bankrott!
Im Augenblick spielt Putin mit angeblichen technischen Schwierigkeiten bei Nord-Stream 1 (ja ja, die leidige Siemens-Turbine), aber die staatlichen russischen Energiekonzerne verdienen trotz deutlich verringerter Liefermenge weiter ganz gut. Schätzungen gehen davon aus, dass Russland derzeit mit Energieexporten sogar mehr verdient als vor dem Einmarsch in die Ukraine.
Aktuell kennt der überhastete und unüberlegte Ausstieg aus Nord-Stream 2 nur einen Gewinner: Russland.
Warum drehen wir den Spieß nicht einfach um? Positionieren Deutschland im Ukraine-Konflikt ein ganz klein wenig neu?
Gönnen wir Putin doch den vermeintlichen Triumph und sichern uns mit einem überschaubaren Rückzug und dem Eingeständnis bei einer Maßnahme von vielen zu weit gegangen zu sein, einen wohlig warmen Winter. So schützen wir die zahlreichen Betriebe, die sprichwörtlich vom Gas abhängig sind – vom Bäcker nebenan bis zur Chemischen Industrie – vor dem Konkurs (und damit auch die verbundenen Arbeitsplätze).
Dass wir in den vergangenen sechs Monaten in Rekordzeit gleich mehrere LNG-Terminals auf den Weg gebracht haben, dass es endlich Debatten über Fracking in Deutschland (US-Fracking-Öl kaufen wir ja schon lange), eine Laufzeit-Verlängerung oder gar den Neubau von Kernkraftwerken gibt, ist ein Erfolg – ebenso wie die Sensibilisierung für Energiesparmaßnahmen, den geplanten Neu-Einstieg in die Solartechnik und zahlreiche weitere grüne Technologien, die jetzt viel schneller umgesetzt werden können, als noch vor einem halben Jahr gedacht.
Ich verstehe die Bauchschmerzen, die viele Menschen bei den Themen Fracking oder Kernkraft haben, vielleicht kommen wir ja auch zu dem Ergebnis, dass das alles nicht notwendig ist, wenn wir jetzt ein wenig den Druck aus der aktuellen Situation nehmen.
Die in Rekordzeit geschaffenen Impulse verlieren wir ja nicht – also den aus der Angst geborenen Innovationsschub, der uns mittelfristig auch tatsächlich von Russland unabhängig machen wird – wenn wir uns für diesen und vielleicht auch ein paar kommende Winter eingestehen, dass das vorzeitige Aus von Nord-Stream 2 ein Fehler war. Abschalten geht ja immer noch, wenn wir dann die Alternativen dazu haben!
Ganz nebenbei bewahrt uns die Inbetriebnahme der fix und fertig in der Ostsee verlegten Pipeline auch vor dem Gas-Einkauf bei Schurkenstaaten, dem Transport dreckiger Steinkohle aus Südafrika oder Australien mit von Schweröl angetriebenen Frachtern – und auch vor dem weiteren Betrieb von tatsächlich richtig übel dreckigen Kohlekraftwerken. Die Grünen müssten doch eigentlich jubeln!
Last not least: Die Umweltschäden, die zweifelsohne beim Bau der zweiten Ostseepipeline entstanden sind, waren dann auch nicht sinnlos!
[Nachtrag des Autors 17. August 2022, 17:00 Uhr] Nach einigen sehr guten Erwiderungen in unserem Facebook-Bereich möchte ich ergänzen: Ich bin kein “Putinversteher”, inzwischen wird man diesen Autokraten selbst im Kreml kaum noch verstehen. Daher könnte es tatsächlich gut sein, dass auch nach Öffnung von Nord Stream 2 weiterhin weniger Gas in Richtung Westen strömt – aber dann haben wir es wenigstens versucht.
Es wäre nur ein kleiner taktischer Rückschritt von einer Maßnahme, die letztlich (nach meiner Ansicht) vor allem auf Druck der USA (wirtschaftspolitische Erwägungen) und der Grünen (generelle Ablehnung fossiler Energien) durchgeführt wurde – tatsächlich übrigens zwei Tage vor Einmarsch der Russen in ihr Nachbarland.
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Vielleicht kann ein Kommentar in der Hasepost dabei helfen, neue Gedanken zu denken oder bestehende An- und Einsichten nochmals zu überdenken, dann haben wir und unsere Autoren etwas richtig gemacht und ganz generell zum Denken angeregt.
„Denken ist schwer, darum urteilen die meisten.“ (C. G Jung)
Bitte denken Sie mehr, Ihr Heiko Pohlmann.
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