„Ich bin mir sicher, auch die Russen lieben ihre Kinder“, für den HASEPOST-Herausgeber ist „die Wende“ von 1989 ganz persönlich „mehr“ als (nur) die Deutsche Einheit von 1990.
Nachdenkliche Gedanken von Heiko Pohlmann über 33 friedliche Jahre
Gestern habe ich zufällig den Song „Go West“ gehört. Nicht die vor allem im Video durchaus kuriose Originalversion der Village People von 1979, sondern die Neuauflage der Pet Shop Boys. Die stammt aus dem Jahr 1993, und nimmt vor allem durch die geschickt eingebundene sowjetische Nationalhymne und einen Kosaken-Chor (dessen Sänger tatsächlich allerdings aus Wales kamen) deutlichen Bezug zu dem sich zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollziehenden Wandel in der ehemaligen Sowjetunion – verstärkt wiederum durch einen zeitgeistig bunten Videoclip (siehe Titelbild zu diesem Kommentar).
Was für ein Aufbruch war das damals. Alles schien möglich. Russland und der ganze ehemalige Ostblock hatte sich von den Fesseln der menschenverachtenden Ideologie des Sozialismus und des Kommunismus befreit. Es sollte für immer Frieden sein. Go West! Endlich Freiheit und vor allem Frieden nach dem jahrzehntelang drohenden atomaren Schlagabtausch zwischen den Großmächten.
Für mich persönlich war das Ende des Kalten Kriegs und der Zerfall der Sowjetunion ein größeres Ereignis als (nur) das Ende der DDR.
Auch weltgeschichtlich war die implodierende DDR ja tatsächlich nur einer von zahlreichen sozialistischen Unrechtsstaaten, der endlich in die Freiheit entlassen wurde. Rumänien, Ungarn, Polen, die baltischen Staaten … überall östlich von Lübeck, Hannover, Kassel, Nürnberg etc. war rund um das Jahr der Deutschen Einheit 1990 ein unfassbarer Umbruch im Gange, weit über die Grenzen des bislang in Unfreiheit gehaltenen zweiten deutschen Staates hinaus.
1987 durfte ich mit zahlreichen anderen Jugendlichen Osnabrücks Partnerstadt Twer (damals noch „Kalinin“) besuchen. Dass da durch das Wirken des neuen Generalsekretär des ZK, Michail Gorbatschow, etwas im Gange war, merkten auch wir Teilnehmer dieser Reisegruppe schnell.
Nicht nur weil man bei den Kontakten mit Russen immer wieder über die Anti-Alkohol-Politik des neuen Kreml-Chefs lachte – und dann doch reichlich getrunken wurde –, sondern weil wir immer wieder gefragt wurden, ob wir denn auch schon von Glasnost und Perestroika gehört hätten.
Selbst der unsere Reisegruppe ständig begleitende und immer schweigsame Aufpasser vom KGB wurde offensichtlich nachlässig bei so viel „Wind of Change“ und vergaß an unserem zweiten Tag in Osnabrücks Partnerstadt das obligatorische Durchzählen der Teilnehmer, so dass ich zusammen mit meinem damaligen besten Freund im Hotel schlicht vergessen wurde.
Der zu einem Besuch eines Samowar-Museums fahrende Bus brach tatsächlich ohne uns beiden (wieder mal mächtig verkaterten) Langschläfer auf – wir sahen buchstäblich nur noch die Rücklichter.
Eifrig und voller jugendlichem Selbstbewusstsein machten wir beiden uns dann einfach selbst auf den Weg, um in der im Vergleich zu Osnabrück mehr als doppelt so großen Stadt an der Wolga dieses ominöse Samowar-Museum zu finden.
Um es abzukürzen: Uns wurde zum Glück geholfen. Einem in etwa gleichaltrigen Mädchen, das wirklich nur über rudimentäre Englisch-Kenntnisse verfügte, konnten wir auf unserem Weg durch die Partnerstadt unser Missgeschick und unser Ziel erklären und sie (Irina) schleppte uns dann durch ihre Heimatstadt. Nach einigen Kilometern Fußmarsch übergab sie uns schließlich unserer Reisegruppe, die unser Fehlen überhaupt nicht bemerkt hatte, und dem etwas irritierten Aufpasser vom Geheimdienst.
Das alles verbunden mit einer Einladung für uns beide, den kommenden Abend doch gemeinsam in der Wohnung ihrer Eltern zu verbringen um die glückliche Fügung gebührend zu feiern.
Man kann sich heute gar nicht mehr vorstellen, was das für Probleme bei unserer russischen (besser „sowjetischen“) Reiseleitung auslöste. Vor allem auch wohl deswegen, da sich irgendwie herausstellte, dass Irinas Vater ein hochrangiger Offizier der Sowjetarmee war.
Einer solchen Person von so hohem militärischen Rang konnte man natürlich die Gastfreundschaft nicht abschlagen – und ich bin mir sicher, dass es über diesen Vorgang noch in irgendeinem Moskauer Archiv eine sehr interessante Akte geben wird.
Glasnost und Perestroika und die damals bereits schon 14 Jahre andauernde Städtepartnerschaft machten es tatsächlich möglich und wir hatten einen wunderbaren Abend. Die Familie des hohen Militärs wollte natürlich viel über Deutschland wissen. Und wir Gäste aus der damals noch geteilten Bundesrepublik mussten uns sehr viele Trinksprüche übersetzen lassen und dabei zahlreiche in Gramm gemessene Portionen des von Gorbatschow so sehr abgelehnten Nationalgetränks zu uns nehmen.
Wie genau wir damals miteinander kommunizierten, ist mir allerdings immer noch ein Rätsel. Aber irgendwie gelang es und wir wurden leider viel zu schnell und viel zu früh wieder von unserem Aufpasser abgeholt und ins Hotel gebracht.
Als dann zwei Jahre später die Mauer fiel und nicht einmal ein Jahr nach diesem unfassbaren Ereignis bereits am 3. Oktober 1990 die Einheit der beiden Deutschen Staaten vollzogen wurde, war das auch wegen dieser Vorgeschichte für mich weit mehr als ein rein deutsches Ereignis.
Die 1987 begonnene Brieffreundschaft mit unserer „Retterin“ schlief dann leider ein – ein Teenager-Schicksal – trotz gefallener Grenzen und der theoretischen Möglichkeit eines Gegenbesuchs oder einer erneuten Reise in die Partnerstadt, die zwischenzeitlich wieder ihren ursprünglichen Namen Twer angenommen hatte.
Ich hatte in den Jahren nach „der Wende“ dann allerdings mehrfach die Gelegenheit, ehemalige Sowjetrepubliken und endlich in die Freiheit entlassene einstige Satellitenstaaten zu besuchen. Darunter auch St. Petersburg, das wir ebenfalls mit der Osnabrücker Jugendreisegruppe 1987 besucht hatten, und das bereits in den 90er Jahren kaum wiederzuerkennen war.
Zurück in die Gegenwart. Inzwischen spricht ein erster Minister (der unfassbare Karl Lauterbach mal wieder) von einem „Krieg“ mit Putin und meint doch tatsächlich einen Krieg mit Russland, in dem Deutschland verwickelt sei.
Und auch die Deutsche Einheit, die wir heute feiern, ist alles andere als das Fest eines wirklich vereinten Deutschlands. Während wir „auf unserer Seite“ der ehemaligen Zonengrenze erstaunlich hohe Zustimmungswerte für die Grünen haben, die 1989 noch als Partei der Kriegsdienstverweigerer und Pazifisten galt und heute offen über Rüstungsexporte und Kriegsstrategien diskutiert, suchen und finden östlich von Lübeck, Hannover, Kassel und Nürnberg immer mehr – vor allem auch nach 1989 geborene Menschen – eine politische Heimat im hartrechten Lager, das sich derzeit besonders friedensbewegt zeigt. Was für eine scheinbar verkehrte Welt, in der wir uns plötzlich wiederfinden.
Ist die Einheit also gelungen? Und hat das Ende des Kalten Kriegs zu einer friedlicheren Welt geführt? Ich bin an diesem 3. Oktober 2022 leider sehr pessimistisch. Aber wir hatten immerhin 33 gute Jahre. Mir reicht das aber nicht!
Wir sollten alles daran setzen, dass der Konflikt in der Ukraine nicht zu einem Flächenbrand wird und uns daran erinnern, was 1989, 1990 und die Jahre danach uns allen Gutes gebracht haben. Wie wir das anstellen sollen, weiß ich auch nicht. Aber ich bin mir sicher, auch die Russen lieben ihre Kinder!
STING, „Russians„, 1985
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„Denken ist schwer, darum urteilen die meisten.“ (C. G Jung)
Bitte denken Sie mehr, Ihr Heiko Pohlmann.
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Titelfoto: Screenshot Go West Pet Shop Boys, YouTube