17. Januar 2016
Auch diese Woche holen wir am Sonntagabend ein Thema aus dem Papierkorb, das unsere Redaktion bewegt hat.
Heute holen wir die „Je suis“ Solidaritätsbekundungen aus unserem Papierkorb, und werden nachdenklich!
Wenn man „was mit Medien macht“, stolpert man irgendwann über die „Nachrichtenfaktoren“ oder den „Nachrichtenwert“. Schon vor fast 100 Jahren hat sich ein schlauer Herr Lippmann darüber Gedanken gemacht, was eigentlich eine Nachricht ausmacht, damit sie es in die Zeitung schafft – oder in sonst ein Medium, das sich der gute Herr Lippmann damals vermutlich nicht vorstellen konnte, zum Beispiel ein Newsportal, wie unsere HASEPOST.
Wie so häufig in der Wissenschaft, ist das, was der Herr Lipmann herausgefunden hat, wenig überraschend. Auch vor dem guten Sir Isaac Newton war den Menschen klar, dass ein Apfel, der sich vom Baum löst, nach unten fällt. Und unser Herr Lippmann hat ein paar Elemente aufgeschrieben, von denen seiner Meinung nach einige zusammenkommen müssen, damit aus einer Meldung auch eine Nachricht wird, die uns dann am nächsten Morgen in der Zeitung erreicht.
Überraschung, Sensationalismus und Nähe sind nur drei der Elemente des Herrn Lippmann. Später stellte ein Amerikaner namens Warren eine eigene Liste auf, mit teils gleichen Elementen, auf der aber auch (die Amerikaner wieder) der „Sex“ auftauchte. Und in den 60er Jahren perfektionierten die beiden Norweger Johann Galtung und Mari Ruge die Liste zu einem Dutzend, mit dem sich jede Meldung darauf abklopfen lassen soll, ob sie geeignet ist uns in den Nachrichten wieder zu begegnen.
Auch bei den beiden Norwegern taucht wieder die Überraschung auf, aber auch die Bedeutsamkeit für den Leser selbst – und eben noch zehn weitere Faktoren.
Was aber hat das mit unserem Redaktionspapierkorb zu tun?
Selbstverständlich hat es der Terroranschlag vom 12 Januar in die Medien geschafft, er erfüllte auch allerlei Nachrichtenfaktoren und hatte für die Kollegen, die über solche überregionalen Ereignisse berichten – auch ohne das man dazu wissenschaftliche Checklisten heranziehen musste – einen Nachrichtenwert.
Und was ist mit uns Osnabrückern?
Mindestens 11 Menschen wurden getötet, darunter die islamistische Hassbirne, die zehn deutschen Touristen den Tod brachte. Wo blieben die „Je suis“ Bekundungen, an die wir uns nur wenige Tage zuvor, am Jahrestag der Anschläge auf das Pariser Satiremagazin erinnerten?
Und wo blieb der Trauermarsch in der Osnabrücker Innenstadt? Sind uns unsere eigenen Landsleute so wenig wert, oder liegt es daran, dass der Anschlag in einem muslimischen Land, der Türkei verübt wurde? Gerade die letzte Frage wurde in den sozialen Medien häufiger gestellt – die erste Frage eigentlich gar nicht.
Dieser Anschlag hat uns Deutschen gegolten – die Türkei war nur der Schauplatz. Rot eingefärbte Facebook-Banner oder Profilbilder, gar ein entsprechend beleuchtetes Rathaus, womöglich garniert mit einem Halbmond, das wäre einfach falsch. Und auch ein „Je suis Istanbul“ wäre schlicht quatsch. Es hätten auch zehn Osnabrücker sein können, die im Urlaubslieblingsland vieler Deutscher grausam aus dem Leben gerissen wurden.
Nochmal: Die Türkei war nur der Schauplatz – nicht das Ziel! „Je suis Tourist“ vielleicht? Ist es das klammheimliche Wissen, dass dies der erste gezielt gegen Deutsche gerichtete Terroranschlag war, und das man das vielleicht lieber gar nicht wahrhaben möchte?
Es gab keinen Trauermarsch in Osnabrück nach diesen Terroranschlag – wir haben keine entsprechende Nachricht in unserem Papierkorb versenkt. Wir wundern uns! Die Wissenschaft kann wohl nicht erklären, warum wir um uns selbst nicht trauern können.
Unsere Rubrik OutTakes erscheint regelmäßig jeden Sonntagabend, hier sind die bisherigen Beiträge in unserem Archiv zu finden.