Der VfL entlässt seine Kinder … Teil 1
Ein Kommentar von Kalla Wefel
Es war der Schock Nummer eins, als das Osnabrücker Urgestein Felix Agu seinen Wechsel zu Werder Bremen kundtat. Urgestein? Richtig, das kann man auch schon mit 20 Jahren sein, wenn man hier geboren ist.
Sofort war in den Kommentarspalten zu lesen, man müsse das verstehen, schließlich sei das der moderne Fußball und eine Riesenchance für Agu und und und … Vornehmlich kommen solche Beiträge von jüngeren Usern, die mit einer Spielkonsole und nicht auf einer Spielwiese aufgewachsen sind. Bei „Fifa 20“ kauft man sich schnell mal ein paar neue Spieler, tauscht einen Trainer nach dem andern aus und alles erinnert ohnehin mehr an ein Börsen- als an ein Fußballspiel.
Kurz: Es entspricht der Realität.
Ob sich Felix Agu damit einen Gefallen getan hat, weiß noch niemand, zu wünschen wäre es ihm. Dem VfL, ohne den er niemals eine solche Karriere hingelegt hätte, hat er damit einen Bärendienst erwiesen.
Der VfL entlässt seine Kinder … Teil 2
Und dann zog es Daniel Thioune zum HSV. Und wieder setzt der pawlowsche Reflex bei den Fifa-20-Usern ein und es wurden ohne Einhaltung der Trauerzeit sämtliche freien Trainer, Spieler und vor allem Ablösesummen gehandelt. Seine Profi- und spätere Trainerlaufbahn hat Daniel Thioune natürlich sich selbst, letztendlich aber vor allem dem VfL zu verdanken, der seinem Jugendtrainer vor nicht einmal drei Jahren die Chance bot, die Profimannschaft von seinem Freund Joe Enochs zu übernehmen. Was dann geschah, ist längst Geschichte.
Lieber Daniel, ich habe über dreißig Jahre in Hamburg gelebt, die Stadt ist wunderschön – na ja, zumindest die Alster, die Elbe, der Hafen, meine Tochter, Blankenese, der FC St. Pauli und das Miniaturwunderland. Viel mehr fällt mir partout nicht ein. Auch dir wünsche ich alles Gute, auch wenn du noch am 14.03.19 in der NOZ verkündet hattest: „Ich kann mir vorstellen, der Christian Streich von Osnabrück zu werden.“
Und nun? Nun hast du die Segel gestrichen.
Die Erkenntnis, dass auch du nur eine ganz normale Ich-AG bist, konnte ich eine Weile durch dein sympathisches und engagiertes Auftreten und solche Interviews erfolgreich verdrängen. Seit deinem problemlosen Umgang mit dem Projekt RB Leipzig war allerdings klar, dass du am Ende des Tages in erster Linie an deine Karriere denkst, was dir niemand verübeln kann.
Du bist eben kein Streich.
Und dann hast du auf der Pressekonferenz in Hamburg gesagt: „Es ging nicht darum, Daniel Thioune zu überzeugen, aus Osnabrück nach Hamburg zu kommen, sondern es ging vielmehr darum, dass ich die Herren überzeugen musste, dass ich die richtige Wahl sein kann.“
Auf Deutsch: Du hast darum gebettelt, den VfL verlassen zu können. Zwar bedankst du dich dann artig für die tolle Zeit in Osnabrück, sprichst viel von Demut, lässt dich aber zu diesem Satz hinreißen: „Vielleicht bin ich dann doch für den Moment etwas schneller gewachsen als das Umfeld.“
Auweia, Daniel, das sind gleich zwei Killersätze nacheinander. Komm mal runter, noch hast du außerhalb von Osnabrück als Trainer rein gar nichts bewiesen, auch wenn ich dir eine Weltkarriere wie einst Udo Lattek zutraue. Wie schnell man schrumpfen kann, hast du am Montag in Dresden erlebt.
Das Hauptproblem aber ist: Du hinterlässt ein emotionales Vakuum beim VfL, das keine der derzeit handelnden Personen auch nur ansatzweise füllen kann. Mit Joe und dir hatte der VfL jahrelang Identifikationsfiguren an der Spitze. Wie sich der VfL die Zukunft vorstellt, weiß ich nicht, denn diese Wohlfühloase gibt es nicht mehr, was weitreichendere Folgen als ein möglicher Abstieg haben kann.
Ich hätte dich hier gerne als Streich gesehen, aber ich fürchte, der Schuh wäre für dich ohnehin noch ein ganzes Stück zu groß gewesen.
Ich wünsche dir alles Gute und viel Glück in Hamburg. Ich aber werde wie immer dem VfL und dem FC St. Pauli die Daumen drücken.
Der VfL entlässt seine Kinder … Teil 3
Und nun, einen Tag vor dem Saisonstart der 2. Liga und trotz monatelanger Dementis, haut Moritz Heyer auch noch ab. Gelockt und geködert von Daniel Thioune, dem die Zukunft des VfL mittlerweile offenbar bestenfalls noch peripher interessiert. Und ich höre schon wieder überall die Litanei der ständigen Jasager und Abnicker: “Das muss man doch verstehen …” Kleiner Tipp: Das muss man überhaupt nicht verstehen!
Denn mit dem in Ostercappeln geborenen Heyer ist einer, wenn nicht sogar der wichtigste Spieler der letzten Saison gegangen. Mit den Abgängen von Agu und Heyer, die beide in der VfL-Jugend im wahrsten Sinne des Wortes groß geworden sind, und mit Daniel Thioune verliert der VfL auch drei echte Osnabrücker als Identifikationsfiguren.
Moritz Heyer sagte gestern in Hamburg: „Es ist ein sehr schönes Gefühl, jetzt hier zu sein. Der Verein genießt ein sehr hohes Ansehen. Dazu kenne ich den Trainer, von dem ich eine sehr hohe Meinung habe, sehr gut. Jetzt gilt es, möglichst schnell auch die Mannschaft kennenzulernen.“
Und Daniel Thioune ergänzte, wobei er einen von Trainer Uwe Fuchs 2011 eingeführten Begriff bemühte: „Ihn zeichnet seine Polyvalenz aus. So einen Spieler hatten wir bisher nicht im Kader. Er kann in der Dreierkette, auf den Außen oder auch auf der Sechs und der Acht spielen.“ Wenn ein Trainer bevorzugt „polyvalente Spieler“ verpflichten will, will er vor allem sprachlich hochstapeln, “vielseitig” klingt ja auch viel zu lapidar und verständlich.
Ganz wichtig für die Anhänger der Tautologie „Der moderne Fußball ist nun mal so, wie er ist“, ist dann immer die Höhe der Ablöse, denn im Fußball geht es ja nicht mehr um Punkte, sondern um Geld. Die Ablöse soll übrigens 600.000 € betragen, die sich durch Einsatzzeiten und andere Ereignisse auf bis zu 1.000.000 steigern kann.
Sollte der VfL diese Saison wegen mangelnder Punkteausbeute die Klasse nicht halten, weil zum Beispiel ein Spieler wie Heyer kaum zu ersetzen sein dürfte, betrüge der Verlust etwa das Zehn- bis Fünfzehnfache.
Aber laut NOZ sehe der 25-Jährige im Wechsel zum HSV, die große Chance zum nächsten großen Karriereschritt und weiter: „Dafür werden Heyer und der VfL auf Verständnis stoßen – vor allem, wenn die Rekordablöse konsequent in die Verstärkung der Mannschaft investiert wird.“
Na prima. Bloß keine Kritik, die Beschwichtigungsshow bereits im vollen Gange und die VfL-Fans werden auch diese dritte Kröte schlucken. Was wollt ihr eigentlich? Ist doch alles halb so schlimm, das Geld stimmt doch! Was interessiert uns denn der Sport …?
PS (Das PS steht übrigens nicht für PlaySation)
Moritz Heyer wird womöglich heute noch im Volkspark-Stadion im Spiel HSV gegen Fortuna Düsseldorf auflaufen und sich nach zwei Tagen Eingewöhnungszeit als Hamburger fühlen. Das ist mir nicht einmal in 31 Jahren gelungen.
PS2
Ihr habt doch alle keine Ahnung. So läuft nun mal das Business. Also haltet die Klappe und fügt euch den Gesetzen des modernden Fußballs.
Titelfoto: Daniel Thioune / imago images, Valeria Witters/Witters/Pool via xim.gs
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Als Kommentar, Kolumne, Meinungsbeitrag oder Satire gekennzeichnete Beiträge geben stets ausschließlich die Meinung des jeweiligen Autors wieder, nicht die der gesamten Redaktion.
Kalla Wefels Saisonrückblick 2019/20 erschien im aufwändigen A-4-Format und ist unter anderem bei Bücher Wenner erhältlich. Dietrich Schulze-Marmeling schreibt in seinem Vorwort: “Herausgekommen ist ein großartiges Saisonbuch. Eigentlich ist es weit mehr als das …” Um die Spielberichte herum ranken sich Reportagen, “Halbzeitgedanken”, Hintergrundberichte, Fankommentare und Kolumnen.
160 Seiten A-4-Format / 12,00 €
Kalla saß mit zwei Jahren zum ersten Mal auf der Trainerbank des VfL, und zwar auf dem Schoß seines Vaters „Doc“ Wefel, der 34 Jahre lang Mannschaftsarzt und Vorstandsmitglied war.
Franz Beckenbauer, Uli Hoeneß, Jupp Heynkes, Gerd Müller, Paul Breitner, Lothar Matthäus, Diego Maradona und Kalla Wefel hatten denselben Fußballtrainer, nämlich Udo Lattek, der einst bei Familie Wefel ein und aus ging. Diese und viele weitere skurrile, heitere und ernste Geschichten und Anekdoten um den VfL lassen sich in seinen Büchern „Mein VAU-EFF-ELL!“ und „111 Gründe, den VfL Osnabrück zu lieben“ nachlesen. Die von ihm 2010 mit viel Aufwand produzierte CD „Wir sind der VfL“ wurde 5.000 mal verkauft und der komplette Erlös (etwa 30.000 €) ging an terre des hommes. Seine VfL-Heimatabende sind legendär. Mit „Kär, Kär, Kär!“ schrieb er das nach der Bibel und „Mein Kampf“ meistverkaufte Buch Osnabrücks. Mit “Der VfL in der Saison 2019/20” hat er ein neues Format entwickelt, das von nun an jährlich erscheinen soll. Seit über vierzig Jahren arbeitet er professionell als Journalist und Buchautor sowie als Kabarettist und Musiker.[/speaker-mute]