Die Universität Osnabrück hat am Mittwoch (2. Oktober) die Ergebnisse ihres dreijährigen Forschungsprojekts zur sexualisierten Gewalt im Bistum Osnabrück vorgelegt. Die Studie, die sich auf den Zeitraum von 1945 bis heute erstreckt, deckt das Ausmaß der Taten und Betroffenen auf. Insgesamt wurden 122 Priester und Diakone beschuldigt, sexualisierte Gewalt an mindestens 349 Betroffenen verübt zu haben. Hinweise auf weitere mindestens 60 Betroffene lassen die Gesamtzahl der Opfer auf über 400 ansteigen. Dabei ist von einem erheblichen Dunkelfeld auszugehen.
Von Distanzverletzungen bis hin zu schweren Sexualstraftaten
Der Bericht verdeutlicht, dass etwa vier Prozent der im Bistum seit 1945 eingesetzten Kleriker Beschuldigte sind. Dies entspricht einem Priester oder Diakon von 25. „Diese Größenordnung bestätigt die Befunde anderer katholischer Bistümer in Deutschland und deutet auf eine mögliche Konstante hin“, heißt es im Abschlussbericht. Die Bandbreite der vorgeworfenen Taten reicht von Distanzverletzungen bis hin zu schweren Sexualstraftaten.
Der Bericht kritisiert zudem die Versäumnisse der Kirchenleitung. Zwar seien in der jüngeren Vergangenheit – insbesondere nach einem Zwischenbericht im September 2022 – Fortschritte zu verzeichnen, doch „die Pflicht, den Betroffenen zu helfen, wurde über lange Zeit erheblich verletzt“, heißt es weiter. Ähnliche Missstände zeigte die Studie auch für das Erzbistum Hamburg, das bis 1995 zum Bistum Osnabrück gehörte.
Sprachliche Umdeutung sexualisierter Gewalt
Ein besonderer Fokus der Untersuchung lag auf der sprachlichen Umdeutung sexualisierter Gewalt, die es Tätern ermöglicht habe, ihr Verhalten zu verbergen oder zu verharmlosen. „Mit dem Zugang über sprachliche Umdeutungsversuche können wir Ebenen von Fällen sexualisierter Gewalt beleuchten, die in den vielfach üblichen Fallstudien kaum greifbar werden“, erklärt Dr. Jürgen Schmiesing von der Forschungsgruppe. Diese Erkenntnisse sind nicht nur für die Aufarbeitung, sondern auch für die Prävention solcher Taten von Bedeutung.
Verdichtete Erzählung zum Schutz von Persönlichkeitsrechten
Einen neuen Ansatz verfolgten die Wissenschaftler auch bei der Darstellung von Einzelfällen. Anstelle klassischer Fallstudien entwickelten sie das Konzept der Einblicke. Diese schildern in verdichteten Erzählungen typische Erfahrungen von Betroffenen, ohne deren Persönlichkeitsrechte zu gefährden. „Viele Betroffene können oder möchten aus guten Gründen nicht öffentlich über ihre Erfahrungen sprechen. Viele sind auch schon verstorben“, so Prof. Dr. Siegrid Westphal.
Entschädigungspraxis nicht ausreichend
Die Studie zeigt, dass das Bistum Osnabrück in den vergangenen Jahren Fortschritte gemacht habe, diese jedoch noch nicht ausreichten, um den Betroffenen gerecht zu werden. „Es ist im Bistum Osnabrück eine Lernkurve erkennbar, die nach oben zeigt“, sagte Prof. Dr. Hans Schulte-Nölke. Dennoch bleibe die Entschädigungspraxis hinter dem zurück, was staatliche Gerichte in klaren Fällen zusprechen würden. Die vollständigen Ergebnisse der Studie sind auf einer eigens eingerichteten Webseite zu lesen.
Bistum richtet Hotline ein
Das Bistum Osnabrück hat aus Anlass der Veröffentlichung des Abschlussberichts eine Hotline eingerichtet, um eine Möglichkeit zum Gespräch anzubieten. Die Anrufe werden von seelsorglich und beraterisch erfahrenen Personen entgegengenommen, bei Bedarf werden auch weitere Ansprechpersonen vermittelt. Die Hotline des Bistums ist unter der Nummer 0541/318795 zunächst am 2. Oktober von 11:00 bis 19:00 Uhr sowie am 3. und 4. Oktober jeweils von 9:00 bis 19:00 Uhr erreichbar.
Pressekonferenz des Bistums am 9. Oktober
Da die Vertreterinnen und Vertreter des Bistums die Ergebnisse des Abschlussberichts erst jetzt einsehen und auswerten können, ist eine ausführliche Stellungnahme der Bistumsleitung im Rahmen einer Pressekonferenz für den 9. Oktober vorgesehen. Auch im Anschluss an diesen Termin wird die Hotline noch einmal freigeschaltet und ist am 9. Oktober von 11:00 bis 19:00 Uhr sowie am 10. Oktober von 9:00 bis 19:00 Uhr erreichbar. Für Betroffene sexualisierter Gewalt oder geistlichen Missbrauchs sind darüber hinaus die unabhängigen Ansprechpersonen im Bistum erreichbar. Die Kontaktdaten dazu finden sich im Internet unter www.bistum-osnabrueck.de.