Sie ist wohl eine der Ikonen der Liberalen, die ehemalige Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP). Zumindest hat sie in den rund acht Jahren, in denen sie das Ministeramt bekleidete, zahlreiche deutsche Gesetze geprägt und dabei ihr Verständnis von Freiheit in die Gesetzgebung einfließen lassen.
Nun, wo die aktuelle große Koalition durch die Vorratsdatenspeicherung (siehe auch hier) erneut den Bürger unter Generalverdacht stellen will, ist sie eine gefragte und streitbare Rednerin.
Am Dienstagabend war die Ex-Ministerin zu Gast bei einer zusammen mit der Rudolf-von-Bennigsen-Stiftung und der Friedrich-Naumann Stiftung organisierten Veranstaltung des Niedersächsischen Datenschutz Zentrums (NDZ) an der Hochschule Osnabrück.
Einleitend brachte Dekanin Prof. Dr. Sabine Eggers, die als Marketingfachfrau eher auf die Anwendung von Daten spezialisiert ist, die Haltung vieler Verbraucher mit einer provokanten These auf den Punkt: „Es ist doch gut, wenn man durch das Datensammeln immer die passenden Produkte angeboten bekommt“?
Diese These wurde im folgenden Beitrag von der ehemaligen Justizministerin dankbar aufgenommen. Allerdings zeigte die einleitende These ungewollt auch ein Dilemma des weiteren Abends auf. Obwohl erst wenige Tage zuvor die staatliche Vorratsdatenspeicherung auf den Gesetzesweg gebracht wurde, gelang es in der Veranstaltung, die von Dr. Christof Haverkamp (NOZ) moderiert wurde, nicht, eine klare Trennung zwischen staatlicher und privatwirtschaftlicher Sammelwut herzustellen. Auch fehlten auf dem Podium klare Befürworter der Datennutzung aus Politik und Wirtschaft, um eine wirkliche Diskussion zu befeuern.
Vorratsdatenspeicherung: Wenn die Politik austestet aus wie weit sie gehen kann
So wurde der Vortrag von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger zu einem umfassenden Schnelldurchlauf, von der Volkszählungsdebatte vor mehr als zwanzig Jahren (auch hier kam das Stichwort von Prof. Sabine Eggers) bis zum aktuellen Versuch, erneut eine Vorratsdatenspeicherung einzuführen. Dabei gelang es der ehemaligen Bundesjustizministerin sehr gut deutlich zu machen, wie sehr das Volkszählungsurteil von 1983 immer noch Gültigkeit hat, und das tatsächlich auch private Datensammler den Kernbereich des Privaten zu respektieren haben.
In der Vorratsdatenspeicherung sieht die ehemalige Justizministerin ein „Austesten“ durch die Politik, wie weit sie gehen könne.
Als Befürworter der Vorratsdatenspeicherung hatte Martin Lammers, Leiter des Dezernats Kriminalitätsbekämpfung der Polizeidirektion Osnabrück, einen überraschend leichten Stand. Er konnte bei den rund 120 Gästen im Caprivi-Campus punkten, weil er deutlich machte, wie Daten heute im polizeilichen Alltag erfasst und verarbeitet werden, und welch schmalen Grad seine Kollegen manchmal gehen müssen, um im gesetzlichen Rahmen arbeiten zu können.
Anhand eines aktuellen Falles, bei dem es um die Verfolgung eines Pädophilen-Tauschrings ging, zeigte der leitende Polizist die Grenzen polizeilicher Ermittlungsarbeit auf. Allerdings kam er zu dem Schluss, das die nun auf dem Weg gebrachte Vorratsdatenspeicherung im konkreten Fall auch keine Ermittlungshilfe sein dürfte.
So blieb die grundsätzliche Befürwortung der Vorratsdatenspeicherung durch den Polizei-Profi, bei allem Verständnis für die notwendige Abwägung der Polizei bei der Arbeit mit Daten von Verdächtigen, ein wenig unscharf.
Prof. Dr. Volker Lüdemann, wissenschaftlicher Leiter des Niedersächsischen Datenschutzzentrums (NDZ), brachte den Fokus wieder auf die Datennutzung und den potentiellen Missbrauch durch Unternehmen. Mit plastischen Beispielen, wie den über 80 Sensoren, die heute in einem Auto zahlreiche Daten erfassen – auch über den Fahrer –, smarten Fernsehern, die per Kamera und Mikrofon in private Bereiche eindringen, und den AGB von Facebook, die viele akzeptieren, aber kaum jemand kennt, alarmierte er das Publikum.
Datenschutz will Lüdemann nicht als Schutz von Daten, sondern als Schutz von Grundrechten verstanden wissen. Jeder Mensch solle wissen, wer was über ihn weiß, so Lüdemann.
Die digitalisierte „Anna“ und der analoge „Tim“
Die Veranstalter schienen vorab geahnt zu haben, dass sie mit ihren arrivierten Gästen in der digitalisierten Gesellschaft eigentlich nur die Rolle von Zuschauern aus einer noch analogen Generation einnehmen.
Um Informationen aus erster Hand zu erhalten, wurden auch zwei „Digital Natives“ eingeladen.
Die beiden Schüler Mariam Ajineh (Jahrgangsstufe 12), Moritz Huesmann (Jahrgangsstufe 10) von der Ursulaschule, zeigten in ihrem multimedialen Prezi-Vortrag exemplarisch zwei prototypische Mitschüler „Anna“ und „Tim“ in ihrem Alltag und als typische Vertreter der digitalisierten Generation (Anna) bzw. als Digital-Verweigerer (Tim).
Vielen Gästen der Veranstaltung dürfte der fiktive Tagesablauf von „Anna“, die mit einer individualisierten Spotify-Playlist in den Tag startet, sich per Facebook verabredet und ihren Kalorienbedarf per App ermittelt, sehr fremd gewesen sein.
Es waren eindeutig mehr analoge und überwiegend ältere „Tims“, im Hörsaal versammelt. Denn Tim hört noch analoges Radio, verweigert sich sozialen Medien und hinterlässt beim Bezahlen mit der Kreditkarte dennoch Datenspuren.
In ihrer Generation gibt es wohl „mehr Annas als Tims“ resümierten die beiden Ursula-Schüler ihren Vortrag vor den Vertretern der Analog-Generation.
In einer abschließenden Diskussionsrunde bestätigten dann zahlreiche analoge „Tims“ aus der nicht-digitalen Gesellschaft mit Wortbeiträgen ihre kritischen Haltung gegenüber neuen Medien, Techniken und der Sammelwut des Staates.
Wie die digitalisierte Generation mit diesen Herausforderungen und einer in den 80er Jahren des vorherigen Jahrhunderts wurzelnden kritischen Betrachtungsweise in Zukunft umgehen wird, blieb unklar und dürfte spannend werden – nicht nur für „Anna“ und „Tim“.