Einen ordentlichen Beruf erlernt zu haben ist nichts, für was man sich schämen muss – ganz im Gegenteil! Egal, ob Deutschland den Superstar sucht oder Germany’s nächstes Topmodel: Eltern werden ihren Kindern sicher immer raten: “Lern erst mal einen anständigen Beruf, danach kannst du alles werden”, zum Beispiel auch Ratsmitglied in Osnabrück.
Wer es da nicht schafft, kann ja immer noch zu Heidi Klum oder Dieter Bohlen gehen. Aber Hauptsache: Vorher wird was Anständiges gelernt.
Ein Kommentar von Heiko Pohlmann
Auch wenn es heißt “Schuster, bleib bei Deinen Leisten”, dürfen gewählte Ratsmitglieder – unabhängig von dem, was sie einmal gelernt haben – von der Aufstellung einzelner Papierkörbe bis zur voraussichtlich 80 Millionen Euro teuren Sanierung des Osnabrücker Theaters mitbestimmen. Aus der Mitte der Gesellschaft gewählte Ratsmitglieder sollen als “Nichtfachleute” und in einer Art von Schwarmintelligenz im Stadtrat den Bürgerwillen repräsentieren.
Ganz bewusst sitzen in den Parlamenten, im Kleinen wie im Großen, meist keine Fachleute für Baurecht oder Finanzen, sondern Menschen mit ganz unterschiedlichem Hintergrund, auch beruflich – so jedenfalls die Theorie.
Oft sitzen dort natürlich vor allem Angehörige von Berufen, bei denen die Freistellung für die Sitzungszeiten und der Wiedereintritt in den Beruf genau geregelt ist, also Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes, gerne auch Lehrer oder Verwaltungsmitarbeiter und seltener mal Selbständige oder jüngere Bürger – aber das ist eine andere Geschichte und tut hier nichts zur Sache.
Die Fachkompetenzen jedenfalls steuern Vertreter der Ministerien (Bundes- und Landesebene) oder der Verwaltung (lokale Ebene) bei. So funktioniert die parlamentarische Demokratie, die (sehr frei nach Winston Churchill) sicher die beste aller Möglichkeiten ist, im Detail aber durchaus auch kritisiert werden darf und manchmal auch kritisiert werden muss – was unter anderem die Aufgabe der Presse ist.
Auf jedem Wahlzettel steht der Beruf der Kandidaten
Erinnern Sie sich an den Wahlzettel zur vergangenen Kommunalwahl? Nein? Zum Glück habe ich im Archiv noch einen Muster-Wahlzettel von 2016 gefunden.
Fällt Ihnen was auf?
Wegen der geringen Auflösung kann man es kaum erkennen, aber zu jedem Kandidaten findet sich auch die Angabe seines Berufs – und das ist so üblich, vermutlich seit Gründung der Bundesrepublik und des Bundeslandes Niedersachsen.
Warum ist das so?
Zum einen legt das Niedersächsische Landeswahlgesetz diese Angabe als “Pflichtangabe” auf dem Wahlzettel fest und wird so mangels anderer Regeln im Kommunalwahlgesetz auch für die Kommunalwahlen übernommen, zum anderen hat man sich in der Frühzeit der Bundesrepublik auch etwas dabei gedacht, denn nicht jeder Bürger hat bis zum Wahltag die Gelegenheit sich an den üblichen Tapeziertischen der Parteien in der Wahlkampfzeit ein Bild von den einzelnen Kandidaten aller Listen zu machen. Und bei bis zu zehn Kandidaten einer Partei, die auch direkt angekreuzt werden können, macht es dann vielleicht einen Unterschied für den Bürger, ob er sich lieber von einem “Rechtsanwalt”, einer “Kultur- und Sprachkraft” oder einem “Hausmann” (beispielhaft für die tatsächlich auf dem oben abgebildeten Wahlzettel zu findenden Berufe) für die nächsten fünf Jahre vertreten lassen möchte. Tatsächlich schreibt auch manch ein Kommunalpolitiker in seinem Facebook-Account oder auf seiner für ihn werbenden Homepage gerne den Beruf dazu, sei es “Sozialwissenschaftler” oder “Betriebsprüfer beim Finanzamt” – der Bürger soll schließlich wissen, wen er wählt und wer ihn vertritt, wenn es zum Beispiel um 80 Millionen für die Theatersanierung oder auch nur neue Müllkübel geht. Und vielleicht wählt er da lieber einen, der sich mutmaßlich besser mit Geld auskennt, oder einen für die schöngeistigen Themen, je nachdem, wo die Präferenzen des Wählers liegen.
Doch offenbar fühlen sich einige Mitglieder des Osnabrücker Stadtrats mit ihrer eigenen Vita doch nicht so wohl …
Dabei heißt es doch, dass nur wer sich als Mensch mit allen seinen Stärken und Schwächen “selbst liebt” (und da gehört sicher auch der Beruf dazu), kann erfolgreich sein … (sehr frei nach Konfuzius Et al.). Manch ein Ratsmitglied scheint sich für das, was ihn außerhalb seiner lokalpolitischen Tätigkeit auszeichnet und ihn beruflich beschäftigt, wohl zu schämen.
Wie sonst ist zu verstehen, was dem Rechtsamt der Stadt jüngst zur Aufgabe gemacht wurde? Noch dazu in geheimer Sitzung und unter Ausschluss öffentlicher Kontrolle.
Rechtsamt der Stadt sollte gegen lokale Presse “vorgehen”
Die Juristen der Stadt sollten für die Feierabendpolitiker* prüfen, ob “die Stadt gegen die örtliche Presse, die im Rahmen einer Berichterstattung die private berufliche Tätigkeit eines Ratsmitglieds vermischt, rechtlich vorgehen kann.”
Ernsthaft, da wurde von Ratsmitgliedern, deren oberste Maxime auch im Lokalen das Grundgesetz und damit zwingend auch die darin festgeschriebene Freiheit der Presse sein soll, ein *Vorgehen* gegen die Presse zur Prüfung vorgeschlagen. Nicht etwa wegen möglicher Falschbehauptungen, sondern allein die Nennung von Tatsachen sollte als Hebel für die juristische Verfolgung offenbar unliebsamer Journalisten genutzt werden.
Nochmals ganz tief durchatmen … und ich wiederhole das jetzt in einfachen Worten für die Leser, die schnell mal mit dem Hashtag #Lügenpresse kommen: Die Erwähnung von Fakten, die auf jedem Wahlzettel stehen und dem Bürger am Tag der Kommunalwahl als Handreichung für seine Wahlentscheidung dienen, möchten Teile des Osnabrücker Stadtrats zum Anlass nehmen, um das aus Steuergeldern finanzierte Rechtsamt der Stadt zu nutzen, die Presse auf dem Klageweg gefügig oder gar mundtot zu machen.
Und nein, dieser Prüfauftrag wurde nicht in Pjöngjang, Ankara oder Berlin (vor Mai 1945 bzw. November 1989) gestellt, sondern im Jahr 2020 in der Friedensstadt Osnabrück.
Rechtliche Prüfung eindeutig für Pressefreiheit!
Um es abzukürzen und unter Verzicht auf die inzwischen bekannten Details aus der nicht öffentlich tagenden Sitzung des Verwaltungsausschusses, wo dieses Thema tatsächlich in dieser Woche auf der Agenda stand:
Das Rechtsamt der Stadt Osnabrück hat in einer zweiseitigen Stellungnahme (liegt unserer Redaktion vor) detailliert dargelegt, dass eine derartige Einflussnahme auf die freie Berichterstattung der Presse geradezu absurd und abwegig ist.
“Aus keinem rechtlichen Gesichtspunkt” kann die Stadtverwaltung hier gegen die Presse vorgehen, stellen die Juristen der Stadt fest und betonen zuvor, dass es mindestens eines “beleidigenden Charakters” bedarf, um so etwas wie einen Unterlassungsanspruch zu “konstruieren” (verkürzte Formulierung des Autors, nicht des Rechtsamts).
Und auch wenn ein Ratsmitglied versuchen würde “selbst privat, ohne Beteiligung der Stadt” gegen die lokale Presse vorzugehen, stellen die Mitarbeiter des Rechtsamts eindeutig fest, dass die in Artikel 5 des Grundgesetzes garantierte Pressefreiheit hier deutlich höher zu bewerten ist, als die gekränkte Eitelkeit eines Kommunalpolitikers.
Ein Blick ins Grundgesetz ist immer hilfreich
Dass dazu überhaupt ein Prüfungsantrag eingereicht wurde, ist in meinen Augen ein Trauerspiel für das Kommunalparlament. Wenn da solche Kleingeister sitzen, denen die grundgesetzlich geschützte Freiheit der Presse offenbar ein Dorn im Auge ist, dann scheint etwas ganz gewaltig im Argen zu liegen.
Für alle Lokalpolitiker, die sich auch nach der jüngsten Sitzung des Verwaltungsausschusses der Stadt noch mit Zensurfantasien plagen, gibt es das Grundgesetz kostenlos frei Haus!
An Oberbürgermeister Wolfgang Griesert: Das Rechtsamt möge bitte den Rechercheaufwand für diese “Hausarbeit in Sachen Freiheitsrechten” beziffern und an die Initiatoren der Anfrage weiterleiten. Eine Spende an Reporter ohne Grenzen in entsprechender Höhe wäre ein guter Ablass für diesen Fauxpas!
Heiko Pohlmann, Herausgeber der Hasepost, gelernter Kaufmann im Groß- und Außenhandel und Dipl. Medienwissenschaftler… und das kann ruhig jeder wissen
* “Feierabendpolitiker” ist nicht abwertend gemeint; der Begriff wird sogar in Unterrichtsmaterialien des Landes Baden-Württemberg verwendet
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