Wie real ist virtuelle Realität (VR)? An der Universität Osnabrück werden Versuchspersonen mittels VR-Brille in täuschend echte Situationen hineinversetzt. Psychologen wollen so untersuchen, ob die virtuellen Erfahrungen vom Gehirn wie reale Ereignisse verarbeitet werden. Ist dies der Fall, könnten sie mit der VR-Technologie einen höheren Grad an Wirklichkeitsnähe erreichen, als es bei psychologischen Experimenten normalerweise der Fall ist.
Ein virtueller Raum
Auf dem ersten Blick sieht das Labor wie ein ungenutzter Seminarraum aus: Die Mitte ist freigeräumt, ein paar verbleibende Tische und Stühle sind eng an die Wände gedrängt. Dreht man sich um, so springt einem an der Wand neben der Tür ein gewaltiger PC-Monitor ins Auge. Auf dem dazugehörigen Computer laufen kurze Video-Aufnahmen von einer Herde Nashörner im Osnabrücker Zoo, aus einem Schwimmbad oder aus dem Innern einer Notaufnahme. Das Besondere: Über eine VR-Brille lassen sich die Aufnahmen nicht nur auf dem Monitor betrachten, sondern als dreidimensionale, virtuelle Umgebung um sich herum erleben. Ein System von Sensoren in den Ecken erfasst Bewegungen, sodass man sich in den virtuellen Welten wie im wirklichen Raum umherbewegen kann.
Nutzen der VR-Technologie
Was wie ein extravagantes Freizeitangebot für technikbegeisterte Studierende klingt, ist in Wirklichkeit ernsthafte wissenschaftliche Forschung. Unter der Leitung von Dr. Benjamin Schöne vom Fachgebiet Allgemeine Psychologie I testen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler den Nutzen der VR-Technologie für psychologische Experimente. Viele herkömmliche Experimente in der Psychologie stützen sich auf Bilder oder Video-Clips, die beim Betrachter bestimmte, zu untersuchende Reaktionen hervorrufen sollen. Der Nachteil dieser Methode ist jedoch, dass das Ansehen von Videos kaum etwas mit den unmittelbaren Erfahrungen gemeinsam hat, die durch diese Videos simuliert werden sollen. Ob man sich einen Film ansieht, in dem die Kamera vom Rand eines Dreimeterbrettes hinabblickt oder man selbst an der Spitze des Dreimeterbrettes steht, sind zwei gänzlich verschiedene Dinge. Ein Unterschied, der sich empirisch nachweisen lässt: Schöne und sein Team untersuchten den Herzschlag ihrer VR-Probanden und führten Messungen ihrer Gehirnaktivität durch; anschließend verglichen sie die Werte mit denen von Personen, die sich dieselben Inhalte auf einer herkömmlichen Videoaufnahme angesehen hatten.
Ergebnis der Forschung
Das Ergebnis: Die physiologischen Reaktionen der Personen mit VR-Brille fielen signifikant intensiver aus, als bei der Vergleichsgruppe. Auch scheinen die Erfahrungen in der virtuellen Realität tiefere Spuren im Gedächtnis zu hinterlassen: Bei einem Experiment, in dem die Versuchspersonen auf eine virtuelle Motorradfahrt mitgenommen wurden, konnten sich die Probanden viel detaillierter an die Rundfahrt erinnern als die, die sich die Tour nur auf einem Bildschirm angesehen hatten. Benjamin Schöne erklärt dies damit, dass die VR-Erfahrungen wie echte, reale Erlebnisse im sogenannten autobiografischen Gedächtnis gespeichert werden, während das Gehirn Erinnerungen an einfache Bilder und Video-Aufnahmen eher oberflächlich im episodischen Gedächtnis ablegt: „Virtuelle Erfahrungen haben wie reale Erfahrungen eine hohe Selbstrelevanz. Nashörner im Film zu sehen ist etwas ganz anderes als das Gefühl, man müsse nur die Hand ausstrecken, um sie zu berühren. Solch ein Erlebnis verarbeitet das Gehirn wie ein biographisches Ereignis und verknüpft es beim Abspeichern mit anderen Erfahrungen. Kurzum, es wird ein integrativer Bestandteil des Selbst, mit dem Potential zukünftiges Verhalten zu beeinflussen. Einen Film über einen Zoo erinnert man als kleine Episode, ein (virtueller) Tag im Zoo, wird in der Erinnerung zu einem bunten Bild, zusammengesetzt aus vielen Erlebnissen und Emotionen.“