“Ueberhaupt aber hat der Bettelstand sehr viel reizendes. Unser Vergnügen wird durch nichts besser befördert als durch die Menge von Bedürfnissen. Wer viel durstet, hungert und frieret, hat unendlich mehr Vergnügen an Speise, Trank und Wärme, als einer der alles im Ueberfluß hat. Was ist ein König, der nie zum hungern oder dürsten kömmt, und oft zwanzig grosse und kleine Minister gebraucht, um eine einzige neue Kitzelung für ihn auszufinden, gegen einen solchen Bettler, der sechs Stunden des Tages Frost, Regen, Durst und Hunger ausgehalten; und damit alle seine Bedürfnisse zum höchsten gereizet hat; jetzt aber sich bey einem guten Feuer niedersetzt, sein erbetteltes Geld überzählt, vom stärksten und besten genießt, und das Vergnügen hat, seine Wollust verstohlner weise zu sättigen? Er schläft ruhig und unbesorgt; bezahlt keine Auflagen; thut keine Dienste; lebt ungesucht, ungefragt, unbeneidet und unverfolgt; erhält und beantwortet keine Complimente; braucht täglich nur eine einzige Lüge; erröthet bey keinem Loche im Strumpfe, kratzt sich ungescheut, wo es ihm juckt; nimmt sich ein Weib und scheidet sich davon unentgeltlich und ohne Proces; zeugt Kinder ohne ängstliche Rechnung, wie er sie versorgen will; wohnt und reiset sicher vor Diebe, findet jede Herberge bequem, und überall Brod; leidet nichts im Kriege oder von betriegerischen Freunden; trotzt dem grösten Herrn, und ist der ganzen Welt Bürger. Alles was ihm dem Anschein nach fehlt, ist die Delicatesse, oder derjenige zärtliche Eckel, womit wir alles, was nicht gut aussieht, verschmähen. Allein, wer ist im Grunde der Glücklichste; der Mann, der ein Stück Brod, wenn es gleich sandig ist, vergnügt herunter schlucken kann; oder der Zärtling, der in allen Herbergen hungern muß, weil er seinen Mundkoch nicht bey sich hat? Und wie sehr erweitert derjenige nicht die Sphere seines Vergnügens, der sich jedes Brod wohl schmecken läßt?
Wie beschwerlich ist dagegen der Zustand des fleissigen Arbeiters, der sich von dem Morgen bis zum Abend quälet, sich und seine Familie von eignem Schweisse zu ernähren? Alle öffentlichen Lasten fallen auf ihn. Bey jedem Ueberfall feindlicher Partheyen muß er zittern. Um sich in dem nöthigen Ansehen und Credit zu erhalten, muß er oft Wasser und Brod essen, seine Nächte mit ängstlicher Sorge zubringen, und eine heimliche Thräne nach der andern vergiessen ….. Wenn ich solchergestalt den ehrlichen fleissigen Arbeiter mit dem Bettler vergleiche; so muß ich gestehen, daß es eine überaus starke Versuchung sey lieber zu betteln als zu arbeiten.”
(aus: Das Glück der Bettler, Justus Möser, 1767)
Guten Abend,
ich muss gestehen, daß ich mir mein 300. Geburtsjahr etwas anders gewünscht habe. Nicht so desaströs und zivilisationsfeindlich, als wie es sich bislang darstellt. Ich hätte mir etwas mehr Glanz und Gloria gewünscht, etwas mehr Lebensfreude, etwas mehr Zukunftsperspektive. Als ich am 14. Dezember 1720 in Osnabrück auf die Welt gekommen bin, war sicher auch nicht alles eitel Sonnenschein. Aber soviel Elend, soviel Niedergeschlagenheit, soviel Traurigkeit, Verzweiflung und Mutlosigkeit wie in den letzten Wochen war in den vergangenen 300 Jahren in der deutschen Geschichte doch eher selten. Und deshalb frage ich mich an dieser Stelle wieder, welches Dasein das erstrebenswertere sein wird für die langen harten Jahre, die vor uns liegen: das des lebensfrohen Bettlers, der auch mit wenig zufrieden ist, oder das des fleissigen Arbeiters, der unter vielen Mühen tagein tagaus sich und die seinen ernährt und doch nie Ruhe, Glück und Erfüllung findet.
Ich glaube, daß die meisten von uns in der nächsten Zeit eine Art Zwitterzustand zwischen diesen beiden Daseinsformen erleben werden. Ob wir wollen oder nicht, so wie früher wird es so schnell nicht wieder sein. Die üblichen Gewißheiten des ständigen Aufschwungs, der sorglosen Vollversorgung und eines gewissen Wohlstandes, der sich eher mühelos vermehrt, sind jetzt schon verschwunden. Und niemand weiß, wie es weitergeht. Es wird eine Rückkehr zur Normalität vorgegaukelt, die der Realität in keinster Weise Rechnung trägt und wahlweise viel zu früh oder entschieden zu spät kommt. Wir werden gezwungenermaßen unseren Lebensstil ändern müssen. Ich kann dem nicht viel Positives abgewinnen. Ich finde es besser, wenn der Menschheit die freie Wahl gelassen wird zwischen dem selbstbestimmten Streben nach Glück in all seinen vielfältigen Erscheinungsformen und einem aufgezwungenen Leben in Zeitlupe, in dem man sich, wie es dieser Tage so schön heißt, Stück für Stück in eine neue Normalität vorantasten muss. Wobei offensichtlich kaum jemand eine Vorstellung davon hat, was genau diese neue Normalität auszeichnet, welche Werte sie mit sich bringt und welche Gefahren sie in sich birgt.
In Epochen großer Umwälzungen sind oftmals die besten, aber auch die allerschlechtesten Eigenschaften des Menschen deutlich hervorgetreten. Zur Zeit meiner Geburt vor 300 Jahren begann die Aufklärung sich Bahn zu brechen. Sie erlöste die Menschheit aus einer langen Zeit der selbstverschuldeten intellektuellen Lähmung und Knechtschaft, wie es so schön heißt. Vor 100 Jahren traten sich radikale und autoritäre Ideologien Bahn, die den verarmten Gesellschaften nach dem ersten Weltkrieg Heilsversprechen gaben, die in unvorstellbarer Grausamkeit und schließlich in der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges mündeten. Ich hoffe, daß die derzeitige Katastrophe im Hinblick auf unsere historischen Erfahrungen zu mehr Solidarität zwischen den Menschen und zu einer weltweiten gemeinsamen Kraftanstrengung führt, um die Folgen der Corona-Krise möglichst schnell zu bewältigen und schließlich zu einer wie auch immer gearteten Normalität zurückkehren zu können. Sicher bin ich mir dessen nicht. Es würde mich aber sehr freuen, wenn wir uns bald aus dem derzeitigen Leben in Zeitlupe befreien. Ich möchte meinen Geburtstag am Ende des Jahres so feiern, wie ich es für richtig halte. Ob als Bettler oder fleissiger Arbeiter, das möge mir überlassen bleiben. Und nicht irgendwelchen Infektionsschutzverordnungen, die sicherlich der Abwehr einer Pandemie dienen können, aber ansonsten für eine freie und lebenswerte Gesellschaft eine ganz besondere und nie dagewesene Bedrohung darstellen. Ob diese Bedrohung die Gefahr durch die Pandemie überwiegt, das wird die Zukunft zeigen. Und jeder von uns mag abwägen, wie er diese Zukunft gestalten wird. Wir müssen uns entscheiden!
Ich wünsche allen HASEPOST-LESERN einen Sonntagabend, an dem es nichts zu mösern gibt.
Ihr
Justus Möser
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