Guten Abend,

AFP

ich habe in den letzten Wochen verstärkt am öffentlichen Gucken teilgenommen. Diese in Fachkreisen auch als „Public Viewing“ bezeichnete Tätigkeit hat mir enormen Spaß gemacht. Leider muss ich jetzt wieder mal zwei Jahre warten, bis ich beim nächsten öffentlichen Gucken dabei sein darf. Donnerstagabend sind zwar einige schöne Träume jäh zerplatzt, aber den deutschen Fußballfans ist ein ruhiger Sonntag mit Zeit für die Familie und ohne Verlockungen zum übermäßigen Alkoholkonsum geschenkt worden. Man muß auch einer Niederlage etwas Positives abgewinnen! Ich mußte im Vorfeld des Halbfinalspiels gegen Frankreich in der lokalen Tageszeitung mit Verwunderung die Feststellung lesen, daß die Zeit des öffentlichen Guckens vorbei sei, daß sich die Bürger wieder mehr in den privaten Raum zurückziehen, daß verstärkt im Kreis der Familie und zusammen mit Nachbarn, Freunden, Bekannten und Verwandten der Leidenschaft für das runde Leder gefrönt wird. Nun ja, von den sechs Fußballspielen bei dieser Europameisterschaft mit deutscher Beteiligung habe ich mir vier in einem großen Biergarten am Westerberg und zwei in einer urigen Gaststätte in Voxtrup angeschaut. Trotz des bis auf gestern immer etwas unsteten und teilweise sogar katastrophalen Wetters war die Stimmung grandios bis bombastisch, es wurde friedlich mitgefiebert und gefeiert. Selbst nach der Niederlage gegen Frankreich gab es zwar keine Jubelstürme, aber die Fans der deutschen Nationalmannschaft trugen ihr Schicksal mit Fassung und konnten nach dem ersten Schock dann doch auch schnell wieder lachen und sich mit der Feststellung trösten, daß wir ja immerhin noch mindestens zwei Jahre lang Weltmeister sind. Ich glaube, daß Totgesagte oft länger leben, als gemeinhin prognostiziert wird. Wenn bei der Fußballweltmeisterschaft 2018 im wunderschönen Russland über Deutschland ausnahmsweise ausgiebig die Sonne scheinen sollte, dann wird das öffentliche Gucken mit Sicherheit wieder zu alter Blüte gelangen, allen Schwarzmalereien irgendwelcher Lokalredakteure zum Trotz. Daß zum Schluß dieser EM nun auch ein paar der betroffenen Gastronomen ins gleiche Horn blasen, hat mich dann aber doch ein wenig traurig gestimmt. Ich habe volles Verständnis für die Enttäuschung und die finanzielle Belastung, die ein nicht immer gut besuchtes „Public Viewing“ für den Veranstalter mit sich bringt. Aber auch hier sollte doch die Devise gelten: nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Es kann meiner Ansicht nach nur besser werden, denn wenn selbst eine wettertechnisch so durchwachsene Veranstaltung wie dieses Fußballturnier zumindest in Ansätzen ein Erfolg war, dann sollten wir uns alle gemeinsam auf das nächste Großereignis freuen und das öffentliche Gucken nicht im Zuge einer temporären Niedergeschlagenheit pauschal verdammen und schlecht reden. Als ich gestern Abend die Bilder von den vielen zehntausend Menschen gesehen habe, die gemeinsam in Sichtweite zum Eiffelturm den Sieg der Franzosen gefeiert haben, da war mir klar, daß diese Form des kollektiven Erlebens seine große Zeit noch vor sich hat. Wie hat Udo Jürgens, Gott habe ihn selig, so schön gesungen: und immer, immer wieder geht die Sonne auf…

Was bleibt sonst noch zu dieser Europameisterschaft zu sagen? Die üblichen Verdächtigen haben mal wieder vor dem Schwenken von Deutschlandfahnen gewarnt, weil damit vermeintlich den politisch rechtsstehenden Kräften in diesem Land in die Karten gespielt wird. Ich halte diese Form der Belehrung für armselig und verlogen. Wessen Geistes Kind muß man sein, um dieses (bis auf die Ausraster von ein paar Hooligans) im Großen und Ganzen friedvolle und völkerverbindende Fußballfest in eine nationalismusverherrlichende Veranstaltung umzuinterpretieren und für seine kruden politischen Zwecke zu instrumentalisieren? Ich halte Aussagen wie „Deutschland verrecke“ für in hohem Maße gewaltfördernd und gefährlich für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in diesem Land. Aber bestimmt nicht das Schwenken einer Deutschlandfahne oder das Tragen eines Trikots der deutschen Nationalmannschaft als Zeichen der Verbundenheit mit den elf Jungs, die als Botschafter unseres Landes auf dem grünen Rasen stehen. Europa braucht viel mehr Meisterschaften wie diese, denn sie verbinden die Menschen auf einem über viele Jahrhunderte hinweg wahrlich leidgeprüften Kontinent mehr als jede EU-Kommission, jedes halbherzige Hilfspaket und jede hochtrabende Politikerrede. Es gibt Zeiten, da bin ich gerne ein Bürger Europas, da bezeichne ich mich sogar mit stolz als Europäer. Die zurückliegenden vier Wochen gehören unzweifelhaft dazu.

Ich wünsche allen HASEPOST-Lesern ein Wochenende, an dem es nichts zu kritisieren gibt. Die Hoffnung stirbt zuletzt!

Ihr

Justus Möser

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