„Mein VAU-EFF-ELL!“
Bis der Ball wieder rollt, wird aus dem Buch „Mein VAU-EFF-ELL“ jeden Samstag um 13.00 Uhr bis zum Wiederanpfiff eine Geschichte in der HASEPOST erscheinen, verbunden mit einer vom jeweiligen Autor vorgetragenen Podcast-Lesung.
„Mein VAU-EFF-ELL!“ ist bei Bücher Wenner in Osnabrück für nur 10,00 € als Sonderdruck erhältlich.
Hier zu allen bereits online erschienen Folgen, inklusive Podcast.
Burkhard Tillner – Und immer wieder grüßt der Flashback …
Die Farbe Lila
Ihr Halstuch ist lila, das reicht. Die Stewardess steht vor ihrem Auditorium im Inneren eines Airbus und sendet mit wundersamen Bewegungen grobe Richtungsempfehlungen aus, anhand derer sich bei Bedarf Notausgänge finden lassen sollen. Meine Augen folgen aber nicht ihren vagen, offensichtlich im Mr.-Bean-Ausbildungscamp einstudierten Hinweisen. Mein Blick bleibt auf ihren Hals gerichtet, genauer gesagt fixiere ich ihr lila Halstuch.
Es ist eindeutig lila!
Das reicht, ein Trigger, ein Auslöser, und ratzfatz lässt die gerade noch in einer Schwimmweste steckende Notausgangeinweiserin in meinen Gedanken statt der Sauerstoffmaske meine erste VfL-Fahne (erschütternd klein), meine zweite VfL-Fahne (akzeptabel) und meine dritte und letzte VfL-Fahne (übertrieben groß) über die Sitzreihen des Fliegers wehen.
Ich habe mir abgewöhnt darüber zu sinnieren, ob es ansatzweise normal sein könnte, dass bei mir eine Situation, eine Geste, ein Geruch oder ein Ausspruch eine Reaktion auslöst, in der bei mir unverzüglich Erinnerungen an den – Quatsch! – an meinen VfL Osnabrück hervorgerufen werden.
Einer einfühlsamen und bis zu diesem Zeitpunkt liebenswerten Kollegin habe ich einmal bei einem Gang über den Osnabrücker Marktplatz unverzeihlicherweise von diesem Phänomen berichtet. Den Kopf besorgt zur Seite geneigt, schaute sie mich mitfühlend an, bevor sie sich an ihren Psychologie-Workshop auf der Hallig Hooge erinnerte:
„Na ja …“ – in ihrer anschließenden Atempause hätte ich auf den Marienkirchturm rauf und wieder runter klettern können – „… es ist wohl ein Schlüsselreiz, der deine Gedanken an den VfL heraufbeschwört. So ein Flashback steht oft für …“ – die jetzt eingetretene Nachdenkphase hätte für zwei Crêpes und einen Espresso gereicht, wurde aber dafür benötigt, ihren Kopf noch sorgenvoller seitlich zu neigen – „… für eine posttraumatische Belastungsstörung, also irgendwie …“ – ihr Ohr und ihre Schulter schienen jetzt zu einer Einheit verschmolzen zu sein – „… ist da vielleicht irgendwann bei dir eine schwere seelische Verletzung entstanden. Kann das sein?“
Meine Schuld, ich bin angefangen, ich habe es ihr erzählt, ich hätte alleine mit den Crêpes auf den Kirchturm steigen sollen, bin ich aber nicht.
Immerhin versuchte sie den gemeinsamen Gang durch Osnabrück zu retten: „Echt schönes Rathaus mit dieser Treppe!“
„Ja echt klasse! Da oben …“ – fast hätte ich ihr gesagt, wie das war, als Kaniber, Burose, Diehl, Baumann, Mumme 1969 da oben standen, aber ich brach das dann mal lieber ab – „ … da oben hast du ‘ne echt gute Sicht über den Platz. Findest du nicht auch?“
Puh! Gerade noch die Kurve gekriegt, das war’s.
Sicherlich wird ihr seither vor meiner Gedankenwelt grauen. Ich hingegen habe mich aufrichtig für sie gefreut, dass sich ihr Ohr und ihre Schulter ohne chirurgischen Eingriff voneinander lösen konnten.
Posttraumatische Belastungsstörung und der VfL Osnabrück? Also, geht‘s noch? Obwohl …
… was sind das genau für Momente, die einen solchen Flashback in mir auslösen? Ein Beispiel. Ich bin irgendwo draußen und im Biergarten oder bei der Gartenparty fallen plötzlich ein paar Regentropfen vom Himmel direkt in mein Bierglas. Alle im Umkreis befindlichen Menschen denken in diesem Augenblick daran, sich in trockene Bereiche des jeweiligen Areals zu verziehen, nur ich nicht. Ich denke dann erst mal, versonnen im Regen stehend, garantiert an etwas ganz anderes.
Das Wunder vom Böllenfalltor
Im November 1986 stand der VfL auf dem zweiten Tabellenrang der zweiten Bundesliga. Genug Grund also, mal wieder vom Erstligaaufstieg zu träumen. Nach unzähligen Auswärtsfahrten, die in den Jahren zuvor, zumindest in der 2. Liga, nicht häufig Grund zum Jubeln geboten hatten, war jetzt ein neues Zeitalter angebrochen.
In dieser Spielzeit hatte der VfL schon am Millerntor St. Pauli geschlagen, in Oberhausen hatte der VfL gesiegt, ein Umstand, der einem RWO-Fan in der Nähe den unvergesslichen Ausspruch „Et is zum Köddel inner Emscher döppen“ entlockte und auch in Bielefeld hatte Lila-Weiß gewonnen.
Wie gewohnt nach einer guten Serie kannte der Optimismus bei meinen Freunden und Auswärtsmitfahrern keinerlei Grenzen. Gut, okay, das 0:5 in Wattenscheid war jetzt nicht so toll, aber so etwas passiert nur ein einziges Mal und nicht wieder, war die verbreitete Meinung bei unserer VfL-Fahrgemeinschaft. Wir sollten recht behalten.
An einem regnerischen Novembertag stand die Partie Tabellenvierter Darmstadt 98 gegen den Tabellenzweiten VfL Osnabrück an. Es wurde ein Spiel wie aus dem Bilderbuch …
… für Darmstadt 98
Das Stadion am Böllenfalltor ist in den vergangenen Monaten nach dem faszinierenden märchenhaften Bundesliga-Aufstieg der Lilien wieder mächtig im Gespräch. Eine alte Stadionschüssel wird es aktuell despektierlich genannt.
Damals, im November 1986 hingegen war das Bauwerk erst eine mittelalte Stadionschüssel. Alle Plätze relativ weit entfernt vom Spielfeld und daher gleich schlecht beziehungsweise gleich gut für einen Sehtest geeignet.
Nach den Beurteilungskriterien, die meine Reisegruppe aufstellte, war aber für das Wesentliche gesorgt: Es gab Bier vom Fass. Das Böllenfalltor hatte sich dank dieses Umstandes souverän vier von sechs möglichen Bechern in unserer ultimativen Stadionwertung gesichert. Alles war angerichtet für eines von vielen Auswärtsspielen, es schien, als würde sich diese Begegnung als eine von zahlreichen in unsere persönliche Statistik einreihen, es schien nur so.
Teilweise hing dies mit dem Auftritt des VfL an diesem Tag in Darmstadt zusammen, der eine Spur schlechter als suboptimal verlief. Zur Pause stand es 0:2 aus Sicht des VfL (einen Treffer steuerte ein gewisser Bruno Labbadia bei), beim Stand von 1:5 schlich sich die Ahnung bei uns ein, dass der VfL diese Partie nicht mehr sehr hoch gewinnen würde.
Am Ende hieß es 1:7.
Wir hatten also einmal mehr unseren Sachverstand bewiesen und recht behalten, ein 0:5 hatte sich nicht wiederholt. Sportlich war die Partie bestens geeignet, aus dem Gedächtnis verbannt zu werden. Unvergessen blieb aus sportlicher Sicht nur, dass ein VfLer, nämlich Dirk Gellrich, noch während des Spiels mit einem Weltstar verglichen wurde. Na gut, dem seinerzeit noch jungen Gellrich gelang, wie eigentlich allen seinen Mannschaftskollegen in diesem Spiel nicht viel und manchmal sogar etwas weniger als nicht viel.
Immerhin setzte Gellrich aber einmal zu einem Solo an, blieb an Gegenspieler Nummer zwei hängen, ohne vorher zu Paul Linz abgegeben zu haben, woraufhin der Oldie im Team laut und deutlich vernehmbar quer über den Platz bölkte: „Na super, du Maradona!“
Gellrich war von nun an also unser Maradona, wieder was gelernt! An mehr Höhepunkte aus Sicht des VfL kann ich mich an diesem Tag nicht erinnern, bleibt das Wunder vom Böllenfalltor.
Schon vor dem Spiel hatte es in Darmstadt begonnen zu regnen, falsch: es hatte begonnen zu schütten. Nach etwa zehn Minuten hatte sich der Regen, falsch: die nasse Schüttung durch sämtliche Bekleidungsutensilien ihren Weg gebahnt. Die nächsten zehn Minuten hatten wir die Nässe noch gefühlt, im weiteren Verlauf des Spiels spürten wir nichts mehr. Lief das Spiel aus unserer Sicht jetzt sportlich auch nicht sooo gut, so war das Wetter noch schlechter.
Während der VfL auf dem Rasen von Steigerungen weit entfernt war, steigerte sich das Wetter mit zunehmender Spieldauer in einen regelrechten Regenrausch. Allerdings nervte es nur solange, bis die Feuchtigkeit endgültig einen nassen Film der totalen Gleichgültigkeit über uns ausgebreitet hatte.
Unsere Laune wurde schließlich von einem völlig unerwarteten Vorteil, den die Wassermassen mit sich brachten, deutlich verbessert. Unsere Bierbecher wurden nicht leer, sondern immer wieder wie von Zauberhand vom Regen neu befüllt. Im schummrigen Licht erstrahlten unsere Augen heller denn je.
Andere Sinne wurden nicht verwöhnt. Geschmacklich nahmen wir, anfangs noch fassungslos, keinen Unterschied zum frisch gezapften Bier wahr, was uns vorübergehend dazu bewog, dem Böllenfalltor zwei Becher in unserer Stadionwertung abzuziehen.
Aber dieses Wunder vom Böllenfalltor, die sich ununterbrochen über 90 Minuten selbst und zudem kostenlos nachfüllenden Bierbecher, haben uns allen letztendlich die Augen geöffnet Teil eines besonderen einzigartigen Moments gewesen zu sein.
Das Team kalt erwischt, die Hände noch kälter und das eiskalte Biermischgetränk im Becher wurde nur durch stetes Nachtropfen am Wechsel des Aggregatzustands gehindert. Uns allen aber war es warm ums Herz.
Danke Böllenfalltor!
Bis zum Ende unserer Stadion-Bewertungsreisen erreichte daher ausschließlich das Böllenfalltor den Spitzenwert von 5,5 Bechern.
Fazit: Eine posttraumatische Belastungsstörung kann auch nach diesem wundersamen Ausflug eindeutig ausgeschlossen werden.Vielleicht sollte ich einmal in meiner Familiengeschichte nach möglichen Ursachen meiner Flashbacks suchen. Da gibt es tatsächlich einen Punkt.
Balkonpiraten
Wir schreiben den Juni 1969. Der VfL war durch die Regionalliga Nord bis in die Aufstiegsrunde zur ersten Bundesliga gewalzt. Es reichte in der Folge nicht zum Aufstieg – ja, ja, ich kann es nicht mehr hören, aber es reichte immerhin zu einem Jahrhundertspiel.
Rot-Weiß Essen gastierte an der Bremer Brücke und damit auch in Reichweite meines Elternhauses. Das ist jetzt nicht so interessant, ist mir schon klar, aber für die weitere Geschichte nicht unwesentlich.
Draußen tendierte die Wahrscheinlichkeit für Darmstädter Regengusswetter gen null. Es war warm, es war ein toller Tag. Da das Stadion pickepacke voll werden sollte, machten sich mein Vater, mein Bruder und ich uns ungewohnt früh auf die nicht einmal zwei Minuten lange Wegstrecke zum Nordeingang der Bremer Brücke.
Meine Mutter richtete sich derweil auf dem sonnenüberfluteten Balkon unserer Erdgeschosswohnung auf ihrem Klappliegestuhl ein. Von diesem Balkon aus hatte man einen freien Blick auf die Wesereschstraße, auf der die Zuschauer Richtung Stadion pilgerten. Zum Ausgleich hatten die zum Stadion pilgernden Zuschauer über einen kleinen Zaun hinweg freien Blick auf Mutters Balkon. Ein Teil dieser Zuschauer kam nicht völlig überraschend aus Essen und reagierte entsprechend auf rot-weiße Farbimpulse sehr heftig. Rot-weiß war auch Mutters Sonnenschirm auf dem Balkon im zeitlosen Fliegenpilzmuster.
Vier Männer aus Essen hatten, den späteren Angaben meiner Mutter zufolge, wohl jeden Meter der Anreise genutzt, des Anlasses und des zu erwartenden Andrangs an den Getränkeständen im Stadion entsprechend, sich weitsichtig im Vorfeld der Partie mit stattlichen Mengen Bieres zu stärken. Diese vier enterten nun kurzentschlossen erst den Garten und erklommen dann die Balkonbrüstung, hinter der meine Mutter bis zu diesem Zeitpunkt, dank eines Sichtschutzes, nicht auszumachen war.
Meine völlig überraschte und flugs in Panikstimmung versetzte Mutter hatte keinen Kuchen da, weil sie nicht mit Besuch gerechnet hatte, jetzt aber ein mulmiges Gefühl der Extraklasse. Überrascht wurde sie gleich noch einmal, als ein von ausgesuchter Höflichkeit geprägtes Gespräch seinen Lauf nahm, in dem ihr die Freibeuter mitteilten, dass sie um Entschuldigung für die Störung und Unannehmlichkeiten bitten würden. Es wäre keinesfalls ihre Absicht gewesen, meine Mutter zu erschrecken, auch dafür baten sie wiederholt um Verzeihung. Der Grund ihrer unüblichen Stippvisite sei allein der Tatsache geschuldet, dass sie sich gerne den Sonnenschirm zum Besuch des Spiels ausleihen würden, da sein Farbenspiel perfekt zu ihrem Verein, der anstehenden Partie und überhaupt zum ganzen Ambiente passe. Selbstverständlich würden sie unmittelbar nach dem Ende der Begegnung das Prachtexemplar unbeschädigt an Ort und Stelle zurückbringen, wenn nötig unter Einsatz ihres Lebens, so wahr sie alle Willi Lippens hießen.
Sprachlos und bestückt mit einer Herzfrequenz der Extraklasse verfolgte meine Mutter in der Folge den Ausmarsch der unerwarteten Gäste, die nun, den Sonnenschirm geschultert, erst den Balkon und dann den Garten Richtung Stadion verließen.
Nach der sagenumwobenen Partie trafen mein Vater, mein Bruder und ich wieder zu Hause ein. Mutter, die es vorgezogen hatte, den Balkon nach der feindlichen Übernahme zu verlassen, um sich hinter allen verschließbaren Türen, die das Haus zu bieten hatte, zu verbarrikadieren, atmete wieder auf. Nach ihrem Bericht des Schreckens zog es uns alle unwillkürlich zum Balkon und dort stand der Sonnenschirm unschuldig in seinem Ständer, als wäre er nie fort gewesen.
Wir schauten anschließend im Fernsehen eine Zusammenfassung der Partie, sahen noch immer zutiefst bewegt die dramatische Aufholjagd des VfL und waren schier aus dem Häuschen, als ein Schwenk über den Bereich, in dem sich viele Essener Fans tummelten, den Blick auf zig Fahnen und einen sich dezent drehenden Sonnenschirm im Fliegenpilzmuster freigab.
Eine posttraumatische Belastungsstörung habe ich in der Folge bei meiner Mutter nicht ansatzweise feststellen können, wieso sollte sich aufgrund dieses Vorkommnisses dann eine bei mir einstellen? Also alles Humbug? Kokolores? Nein, ich gebe es zu, da ist doch noch etwas … zudem etwas, das mir ständig wieder einfällt.
Darauf war ich nicht vorbereitet.
Kennen Sie auch diese Typen, die alles kommentieren, die meinen, alles zu wissen, und die dabei ungeheuer nerven?
Wenn es um Fußball geht trifft man diesen Typus auffallend häufig an. Wie erreicht man, dass genau dieser nervende Typ still wird?
Ich hätte da einen Tipp für Sie. Bieten Sie ihm eine Wette an, eine Wette, dass er garantiert eine Frage aus dem Wissensgebiet ‚deutscher Fußball‘ nicht beantworten kann. Als Wetteinsatz schlagen Sie vor, dass er, sollten Sie gewinnen, bei dem betreffenden Beisammensein kein Wort mehr über Fußball verlieren darf. Sollten Sie die Wette verlieren, bieten Sie ihm an, was immer Ihnen vorschwebt, denn er wird immer verlieren.
Sie sind skeptisch? Das ist nicht nötig, diese Wette ist von mir erprobt und hat besorgniserregend viele Getränke eingespielt. Und wie lautet nun diese Frage und warum erzähle ich Ihnen das und wette nicht mit Ihnen?
Die Frage lautet:
Welcher deutscher Fußballspieler wurde in dem gleichen Jahr sowohl deutscher Meister als auch deutscher Pokalsieger?
Moment!
Und dies mit zwei unterschiedlichen Vereinen?
Hammer, oder? Im gleichen Jahr deutscher Meister und deutscher Pokalsieger mit zwei Vereinen!
Lassen Sie Ihr Gegenüber googeln, telefonieren oder heimlich leise weinen und genießen Sie schon jetzt diese Ruhe! Bleibt die Frage, warum erzähle ich Ihnen diesen Quatsch?
Weil Sie es verdient haben.
Klar, wer sich bis hierhin durch diesen Text gequält hat, der hat weit mehr verdient. Ich erzähle das aber auch, weil in dem Jahr, in dem dieser gesuchte Spieler dieses schier unmöglich Scheinende geschafft hat, ich etwas erlebt habe, was mir immer wieder einfällt, wenn ich diese Wette anbiete oder mein Bruder blöd grinst, aber dazu später.
1970 spielte der VfL im DFB-Pokal gegen den Bundesligisten Eintracht Frankfurt, und zwar am Gründonnerstag. Die Partie begann am späten Nachmittag, da der VfL an der Bremer Brücke weit von fantastischen Spielen unter Flutlicht entfernt war, weil es schlicht noch kein Flutlicht an der Bremer Brücke gab.
Die Stimmung war auch flutlichtlos gut, sehr gut, ausgesprochen sehr gut sogar. Und die Stimmung wurde noch besser, als Kalla Diehl in der ersten Hälfte den VfL in Führung brachte. Es war ein Tag wie ein Traum, der für mich zum Albtraum wurde.
Ich stand, meinem Alter und meiner Größe geschuldet, unmittelbar hinter der Bande in der heutigen Ostkurve, die damals niemand so nannte, die hieß einfach ‚Hinterm-Tor-zur-Kreuzschule-hin‘. Okay, Ostkurve klingt besser, aber ich stand nun mal ‚Hinterm-Tor-zur-Kreuzschule-hin‘, unten an der Werbebande. Mein Bruder, der auf mich aufpassen sollte, wie lächerlich, stand ein paar Reihen hinter mir.
Diese Bande und ich waren Kumpels. Ich hielt sie immer fest, damit ihr nichts passieren konnte. Und hier an der Bande konnte man den unvergesslichen Bremer Brücke VfL-Geruch bestens erschnuppern: diese Kombination aus Rasenschnitt, Bratwurst und damals noch überwiegend rauchender Menschenmenge.
Zudem drang der Bremer-Brücke-Sound bestens an die Ohren, eine Prise Songs der Shadows, eine Spur merkwürdiger Werbedurchsagen, herrlich bis unheimlich fluchende Erwachsene und die Offerten der Bauchladenverkäufer, bei denen das eingängige „Zigaretten! Drops!, Pfefferminz!“ immer häufiger durch „Cooolaaa! Faaantaaa! Schpreiiiiiit!“ abgelöst wurde.
Genau in diese Melange für die Sinne hatte Kalla Diehl zum 1:0 getroffen. Die Bremer Brücke war der Hort puren Glücks und es war so schön laut …
… bis ein Bernd Hölzenbein im zweiten Abschnitt für Frankfurt zum Ausgleich traf. Mir wurde mulmig, schließlich hatte die Eintracht noch einen Jürgen Grabowski, der mit zur WM nach Mexiko fuhr, und einen Bernd Nickel, den hatte ich schon oft in der Sportschau gesehen und von ihm im Radio gehört, o Mann!
Und jetzt wurde es auch noch dunkler, o Mann!
Ich war nervös, es sollte einen VfL Sieg geben und nichts anderes, o Mann!
Und es wurde noch dunkler, o Mannomann!
Und dann geschah es endlich. Der Ball landete im Tor, meine Anspannung landete irgendwo. Ich drehte ab, ich riss die Arme hoch, ich schrie so laut und lange wie nie zuvor: „Toooooooooooooooooooooooooooooor!!!!!!!!“
Aber in dem Augenblick war etwas anders als sonst. Es war so … so still rings um mich herum. Keiner regte sich. Hatten die anderen denn nicht das Tor gesehen?
Das Tor!
Der Ball war im Netz!
Ich kapierte nichts. Der Ball war im Tor, eindeutig. Aber ebenso eindeutig jubelten auf dem Platz jetzt die falschen Spieler, nämlich die Eintracht-Spieler.
Aber der Ball war doch in dem Tor gelandet, auf das der VfL gespielt hatte!
Ich verstand einfach nichts mehr …
Und dann quatschte auch noch der Stadionsprecher so einen Blödsinn: „112. Minute. Tor für Eintracht Frankfurt. Torschütze: Bernd Hölzenbein!“
Ja, ja, ja, Hölzenbein hatte das 1:1 geschossen, aber vor hundert Jahren! Was sollte das alles?
Ich schaute mich hilflos und komplett ratlos um. Ringsherum ärgerliche enttäuschte Gesichter und nur ein paar Reihen höher mein Bruder. Der grinste mich an … also, der grinste mich doch tatsächlich an …
Es fiel kein Tor mehr. Bis zum Abpfiff habe ich nichts verstanden. Was war da passiert? Wieso trafen die Frankfurter in ihr eigenes Tor und jubelten?
Auf die Schmach des einsamen falschen Jubels folgte die Schmach des Heimwegs mit meinem Bruder, der sechs Jahre älter ist als ich, der Jahre zuvor täglich Zeit gehabt hätte, mir das zu sagen, was er mir jetzt mitteilte: Er faselte etwas von einer Verlängerung und dass dann die Seiten nochmal gewechselt werden müssten.
Was für eine Verlängerung?
Und wieso hatte mich niemand auf eine Verlängerung vorbereitet?
Was für einen Quatsch man in der Schule lernte, aber nichts, rein gar nichts über Verlängerungen …!
Zu Hause dann wieder sein Grinsen, als er unsere Eltern sah. „Ich muss euch mal was erzählen, ihr lacht euch schlapp! Also, es gab Verlängerung und die Frankfurter schießen ein Tor, aber Burkhard …“
Weiter kam er nicht! Ich war zwar damals kleiner als er, aber ich kannte fiese Tricks, mit denen man sich an größeren Brüdern rächen konnte.
Damit war dieser Albtraum auch aus der Welt.
Verstanden?
Er war aus der Welt und das sage ich jetzt allen.
Ist das klar?
Hat das jetzt wirklich jeder verstanden?
Gut, ich habe es jetzt ja auch verstanden, das mit der Verlängerung. Seitdem habe ich stets nur an den korrekten Stellen gejubelt. Sollte ich aus diesem Gründonnerstag-Erlebnis wirklich eine posttraumatische Belastungsstörung davon getragen haben, habe ich sie über Jahre mit einer ‚An der-richtigen-Stelle-VfL-Jubelschrei-Therapie‘ längst hinfort geschrien! Basta!
Ist das jetzt klar?
Verstanden?
Ach ja, Sie fragen noch nach der Lösung zur Wettfrage. Ich habe Ihnen doch schon die Jahreszahl genannt, den Rest müssen Sie selbst herausfinden.
Na, das schaffen Sie schon!
Und Sie sollten sich zudem Klarheit darüber verschaffen, ob Ihr Wettgegner dieses Buch hier besitzt oder, schlimmer sogar, gelesen hat, dann würde ich Ihnen von einem sehr hohen Wetteinsatz abraten, nicht dass Sie übermütig zu früh an der falschen Stelle jubeln, dass … aber Sie wissen es ja schon.
Schreiben tut not
Ich glaube, das Schreiben hat mir gut getan, ich hatte jetzt schon 20 bis 30 Minuten keinen VfL-Flashback mehr und das obwohl gerade wieder die Stewardess mit ihrem lila Halstuch zielstrebig mit dem Getränkewagen auf mich zukommt.
Ich blicke auf ihr lila Halstuch und nichts passiert …
Es geht doch!
Jetzt ist das lila Halstuch nur noch zwei Sitzreihen von meinem Platz entfernt, nichts verändert sich. Nichts, ich stelle mir noch nicht mal vor, wie es mit einem Crêpes auf dem Marienkirchturm wäre.
Man kann sich halt auch viel einreden, man sollte sich besser viel öfter verabreden. Mit meinem Freund Ralf habe ich beispielsweise verabredet, zum ersten Europapokalauswärtsspiel des VfL mit dem Flieger zu reisen, egal wann, egal wohin.
Da ist auch schon das lila Halstuch, ja, einen Kaffee hätte ich gerne, by the way, fliegt Ihre Fluggesellschaft eigentlich auch Charter für Fußballfans?
Ja?
Nur mal angenommen, der VfL Osnabrück – ja genau der, der gerade in der dritten Liga ist, aber man weiß ja nie, haha –, also beispielsweise nach Turin, London, Madrid oder auf die Färöer Inseln …
Burkhard Tillner
* 17.08.1960 in Osnabrück
Sportjournalist
„Mein VAU-EFF-ELL“ – ein VfL-Lesebuch
288 Seiten
Verlag Internationaler Heimatabend
erhältlich für 10,00 € bei Bücher Wenner
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