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Kommentar: Niedersachsen sollte nicht mit 10 Millionen Euro auf Eintagsfliegen spekulieren

„Wir kommen nur voran, wenn wir Risiken eingehen“- unter diesem Credo stand das Grußwort des niedersächsischen Wirtschaftsministers Bernd Althusmann bei dem Eröffnungsevent für das Growhouse und den Venture-Fonds Scalehouse Capital in Osnabrück. Klare Sache: Manchmal muss man Risiken eingehen, um große Erfolge zu erzielen. Aber sollte das Land Niedersachsen tatsächlich mit Steuergeldern spekulieren, um Startups, die teilweise nur wenig mit der Lösung der globalen Ernährungskrise zu tun haben, einen „Kick-off“ zu ermöglichen?

Ein Kommentar von Tatjana Rykov

Auf der Welt leben über 7,7 Milliarden Menschen und die Tendenz steigt. Natürlich stellt sich da die Frage, wie die Menschheit in Zukunft versorgt werden soll; ein Punkt, den Florian Stöhr, Geschäftsführer des Seedhouse und Growhouse, vollkommen zurecht während seines Grußwortes am Dienstagabend (9. August) herausgegriffen hat. Viele Startups, die im Osnabrücker „Accelerator“ Seedhouse und „Incubator“ Growhouse begleitet, gefördert und unterstützt werden, haben sich der Lösung dieses Problems angenommen; zumindest vor einer Zuschauerschar von knapp 170 Personen.

Die Sinnhaftigkeit einiger Startups ist klar, über andere lässt sich streiten; wieder andere scheinen sich in ihrem Tun weniger auf die Lösung einer Ernährungskrise zu beziehen als auf die Produktion überteuerter und unnötiger Nahrungsergänzungsprodukte. Ich will mich weder als Startup- noch als Finanzkennerin darstellen. Die Entscheidung, Geld in eine Marke oder in ein Unternehmen zu investieren, liegt schlussendlich immer bei den Gesellschaftern und mag auch logisch begründbar sein. Die Tatsache, dass der Investor im Fall der Scalehouse Capital unter anderem das Land Niedersachsen ist, lässt mich allerdings schwer schlucken.

Mehr als 50 Prozent der Startups scheitern nach fünf Jahren

Zehn Millionen Euro investiert das Land Niedersachsen in den Venture-Fonds, der zeitgleich mit dem Growhouse in Osnabrück eröffnet wurde. Ein Venture-Fonds ist ein Risiko- beziehungsweise Wagniskapital, das Startups finanziert, die keine eigenen Kapitalanlagen haben. Der Gewinn ist hoch, sollte das Startup auf dem freien Markt erfolgreich sein – das Risiko ist allerdings umso höher. Der KfW-Gründungsmonitor 2020 gibt die Überlebensquote von neugegründeten Unternehmen nach dreijährigem Bestehen bei etwa 70 Prozent an. Nach fünfjährigem Bestehen sinkt die Überlebensquote nach Zahlen des Statistischen Bundesamtes auf etwa 37 Prozent. Während das Risiko eines Unternehmensabbruchs im Verlauf der Zeit also immer weiter steigt – wobei der Abbruch in der Regel aus persönlichen und nicht aus finanziellen Gründen erfolgt – steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass das Land Niedersachsen zehn Millionen Euro an Steuergeldern verspekuliert hat. Ob die Startup-Kultur Deutschland also wirklich „durch alle Krisen retten kann“, wie Bernd Althusmann denkt, kann man durchaus infrage stellen.

Investitionen in Eintagsfliegen

Viele der neuen Startups im Osnabrücker Growhouse setzen auf künstliche Intelligenz oder technisch optimierte Abläufe, um beispielsweise CO2-Emissionen einzusparen oder das Tierwohl zu steigern. Sowohl Stöhr als auch Althusmann betonten, dass sie pragmatische Menschen seien; richtige „Macher“. Sie suchen nach intelligenten Lösungen für menschengemachte Probleme und scheinen dabei den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr zu sehen. Jährlich werden 800 Millionen Kilogramm Lebensmittel im Handel weggeschmissen. Im Durchschnitt wirft jeder Verbraucher pro Jahr etwa 78 Kilogramm Lebensmittel in den Müll. Die FAO (Food and Agriculture Organization of the United Nations) kam bereits 2011 zu dem Ergebnis, dass ungefähr acht Prozent der menschengemachten Treibhausgase aus Lebensmittelverschwendung resultieren. Weitere 14 Prozent stammen aus Massentierhaltung, um möglichst billiges Fleisch zu produzieren. Dass die Ernährungskrise und die Klimakrise zusammenhängen, ist schon lange klar; umso wichtiger sind jetzt tatsächlich pragmatische Lösungen und Investitionen – Investitionen in nachhaltige Projekte wie etwa erneuerbare Energien oder Bildung, und nicht in Eintagsfliegen auf einem riesigen Markt.

Die Ernährungskrise lösen – mit getrockneten Beeren?

Den Gründern und Politikern scheint ebenfalls entgangen zu sein, dass die weltweite Ernährungskrise nicht primär in Deutschland stattfindet. An dieser Stelle sei die Frage in den Raum geworfen, wie umwerfend farbechte, getrocknete Beeren und hypoallergenes Hundefutter aus Insekten die Ernährungskrise in Entwicklungsländern lösen sollen. Im östlichen Afrika sind in einem Zeitraum von etwa elf Monaten über 250.000 Kinder unter fünf Jahren an Mangelernährung gestorben. Die Frage, die hier im Vordergrund steht, ist also nicht „Wie wollen wir die Menschen auf der Welt ernähren?“, sondern wohl eher „Wie wollen wir den deutschen Wohlstandsbürger ernähren?“. Eine Veranstaltung mit dem hochgesteckten Ziel anzukündigen, die globale Ernährungskrise lösen zu wollen, während eher Wohlstandsschichtler angesprochen werden, erscheint mir unter jedem Blickwinkel grotesk und unpassend.

Mut für Ideen, aber bitte realistisch

Natürlich: Um die Ernährungskrise zu lösen, müssen alle mitarbeiten. Jeder muss versuchen, seinen Beitrag dafür zu leisten, dass die Erde auch in Zukunft nicht nur bewohnbar, sondern auch lebenswert bleibt. Dafür benötigt es Ideen und den Mut, diese umzusetzen. Doch vor allem braucht es einen realistischen Blick und nicht künstlich erzeugte Probleme. Hier soll es gar nicht so sehr um die Startups des Seed- und Growhouse gehen, die in vielerlei Hinsicht eine absolut legitime Daseinsberechtigung haben. Vielmehr geht es darum, zu verstehen, dass viele Probleme der Menschheit bereits eine Lösung kennen. Diese Lösungen befinden sich in den wenigsten Fällen in einem Container vor einem Startup-Accelerator, sondern eher in der Denkweise des Menschen. Anstatt zehn Millionen Euro in einen Risikofonds für Jungunternehmen zu investieren, von denen statistisch gesehen schon nach fünf Jahren nur noch weniger als die Hälfte existieren werden, sollte das Land Niedersachsen nachhaltig denken und in die buchstäbliche Zukunft der Menschheit investieren: den Menschen selbst.


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Tatjana Rykov
Tatjana Rykov
Tatjana Rykov startete im Sommer 2019 mit einem Praktikum bei der HASEPOST. Seitdem arbeitete sie als freie Mitarbeiterin für unsere Redaktion. Nach ihrem Bachelor in Geschichte und Soziologie an der Universität Osnabrück ist sie seit 2023 wieder fest im Redaktionsteam. Derzeit schließt sie ihren Fachmaster in Neuste Geschichte an der Uni Osnabrück ab. Privat trifft man sie oft joggend im Park oder an ihrer Staffelei.

  

   

 

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