Wenn man wissen möchte, wie es um Deutschland bestellt ist, schaut man am besten mit dem Blick von außen. Die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) machte seine fünfte Samstagsausgabe in diesem Jahr mit einem Leitartikel zur Verfasstheit Deutschlands auf, und auch die New York Times (NYT) befand Ende Januar, dass die aktuelle Lage in Deutschland besorgniserregend sei. Spoiler: Wer nur inländischen Journalismus konsumiert, könnte irritiert sein.
Am Samstag, 03. Februar, prangte auf dem Titel der internationalen NZZ-Ausgabe: „Die Deutschen machen einem Angst“. Und damit war nicht das bundesweite Erstarken der Partei AfD gemeint, sogar ganz explizit nicht. Der Leitartikel von Chefredaktor Eric Gujer rechnet mit den Deutschen ab.
Ausländische Medien berichten anders
Die schweizerische NZZ zeigt sich generell als kritischer externer Beobachter Deutschlands. Die Tageszeitung ist in der Lage, mit kritischer Vernunft und professionellem Journalismus Deutschland anders zu sehen und darüber zu berichten als dass inländische Medienhäuser überwiegend dazu bereit oder dafür in der Lage zu sein scheinen. Möglicherweise ist dies ein systemimmanentes Phänomen, der blinde Fleck. Vielleicht ist es dem deutschen Journalismus möglich, wahrzunehmen, jedoch nicht zu beobachten. Ausländischem Journalismus vermag dieses in der Distanz möglich zu sein.
Deutsche werden als naiv und moralisch überheblich gesehen
So kommentiert Gujer in seiner Beobachtung in der NZZ die Deutschen als ein Volk mit einer Affinität zu Extremen, einem fatalen Hang zur gefühlten Überlegenheit. So erlebte man sich als eine „dem materialistischen Westen überlegene Kulturnation“ und stürzte doch „in die Barbarei von Auschwitz“. Mit der „Willkommenskultur“ 2015 wollte man dem „hartherzigen Westen“ zeigen, „wie man mit Migranten menschlich umgeht“. Doch so wenig die naiven Deutschen in der Lage gewesen seien, die Massenmigration rational zu betrachten, so seien sie nun ebenso nicht fähig, mit den Folgewirkungen sachlich umzugehen. Gujer kommt nicht umhin, süffisant zu beschreiben, wie die Deutschen nun um den vermeintlichen Verlust der Demokratie bangen und gefühlt kurz vor der Machtergreifung der AfD stünden, ganz im Zeichen von 1933. Er kommt zu dem Schluss:„Liessen sich die Deutschen nicht von Ängsten treiben, würde der Popanz rasch auf (…) Normalmaß schrumpfen.“
Es stellt sich an dieser Stelle die Frage, wer „die Deutschen“ sind, die Gujer beschreibt. Ist es tatsächlich die Mehrheit, oder ist es eine Minderheit, die sehr laut, öffentlich sichtbar ist, so dass sie nur die Mehrheit zu sein scheint?
NZZ attestiert Deutschen Hang zum Totalitarismus
Auch die Regierung Deutschlands kommt in der ausländischen Beobachtung nicht gut weg. Der NZZ-Chef spricht davon, dass unser Bundeskanzler sich nicht wundern müsse, wenn man ihm vorwerfe, er verramsche den deutschen Pass. Auch zeige sich das Ausland irritiert über Vorschläge, die nicht radikal genug sein können: Parteiverbot, Entziehung der Bürgerrechte. „Warum nicht gleich Schutzhaft für das AfD-Präsidum“, fragt Gujer. Wenig sei in der deutschen Geschichte so verhängnisvoll gewesen wie der ewig Wunsch, Probleme „grundsätzlich“ zu lösen.
Das Ansehen der deutschen Regierung im Ausland schwindet
Auch ausländische Diplomaten blicken fassungslos „auf den mit staatlicher Hilfe finanzierten Hype“, schreibt Alexander Marguier, Chefredakteur des als konservativ geltenden Cicero-Magazins, am 05. Februar. „Was man dort – natürlich inoffiziell – über die aktuelle Verfassung der Bundesrepublik im Allgemeinen und über jene der Ampel-Regierung im Speziellen zu hören bekommt, ist schlicht und ergreifend: verheerend“, beschreibt Marguier den Blick aus anderen Ländern. Übereinstimmend seien die Meinung, dass Deutschland sich bezüglich der AfD in eine Hysterie reingesteigert habe, die alles nur schlimmer machen würde. Auch andere Länder hätten sich mit Rechtspopulismus herumzuschlagen, doch nirgendwo würde dies auf „derart unsouveräne Weise“ geschehen. „Die Ampel-Koalition selbst habe das gesellschaftliche Klima vergiftet.“ Die größte Gefahr ginge nicht von der AfD aus, sondern von einem Kanzler, der die Spaltung der Gesellschaft vorantreibe, um von seinem eigenen Versagen abzulenken.
Der geisteskranke Moralprediger des Kontinents
Es mag nur eine Einzelmeinung eines ausländischen Diplomaten sein, die der Cicero zitiert. Doch die Brisanz der Aussage, die deutlichen Worte tragen in zeitlich engem Zusammenhang mit den Berichterstattungen der NZZ und der NYT vom 18. Januar eine gewisse Warnung mit sich. „Es herrscht der Eindruck vor, dass die Deutschen sich freiwillig auf eine abschüssige Bahn begeben haben — und gleichzeitig alle anderen davon überzeugen wollen, es ihnen gleich zu tun. Die Bundesrepublik wäre demnach nicht nur der (wirtschaftlich) kranke Mann Europas, sondern gewissermaßen auch der geisteskranke Moralprediger im zivilisierten Teil unseres Kontinents“, so einer der ausländischen Diplomaten.
Deutschland auf vorletztem Platz im internationalem Ranking
In der NYT wird der den Lesern jenseits des deutschen Medienmainstreams vom wirtschaftlichen Stillstand in Deutschland berichtet, und dass man keine Verbesserung im laufenden Jahr erwarte. Innerhalb der Gruppe der 20 Länder, zu denen Industrie- und Entwicklungsländer aus der ganzen Welt gehören, wird Deutschland laut der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) das Schlusslicht bilden, nur für Argentinien wird ein noch schwächeres Wachstum prognostiziert. Wobei man “noch” auch doppeldeutig sehen kann, schließlich fand erst kürzlich ein mutiger Regierungswechsel statt, der eine Komplettreform des Wirtschaftswesen zur Folge haben wird und erste Prognosen vielversprechend sind.
Journalismus ist nicht Selbstzweck
In demokratischen Systemen hat Journalismus eine ganz bestimmte Aufgabe, sie erfüllt die Funktion einer sogenannten “vierten Gewalt”. Das bedeutet, neben der legislativen, judikativen und exekutiven Gewalt stellt der Journalismus eine Kritik- und Kontrollfunktion dar. Er ist das Beobachtungssystem der ganzen Gesellschaft. Er zeichnet ein Abbild und spiegelt es zum Zweck der Selbstbeobachtung zurück. Findet derzeit in der deutschen Medienlandschaft eine kritische Auseinandersetzung mit der Arbeit der Regierung statt? Möglicherweise gehen hier Selbst- und Fremdwahrnehmung des journalistischen Systems in Deutschland auseinander. Es mag sein, dass der deutsche Journalismus in bester Absicht denkt, er erfülle seine Aufgabe und sei nicht Erfüllungsgehilfe etwaiger Ziele anderer. Der Blick von außen, aus dem Ausland, bietet die Chance, einen möglichen blinden Fleck wahrzunehmen, der aufgrund des Selbstbildes oder des gesellschaftlichen Konstruktes ausgeblendet wird.
Schlaglicht auf die deutsche Berichterstattung
Die Tagesschau berichtete am 26. Januar: „Krankenstand drückte Deutschland wohl in Rezession“, die Süddeutsche Zeitung hat eine eigene Themenseite „Insolvenzen“ und wirbt mit dem Slogan „Aktuelles, Analysen und Hintergründe“. Dass seit Mitte vergangenen Jahres durchgängig zweistellige Zuwachsraten bei Insolvenzen im Vorjahresvergleich zu beobachten sind, scheint dort nicht hinterfragt zu werden. Googelt man „Energiepreise“ wird in der deutschen Presselandschaft unisono Russland als der Schuldige ausgemacht, anstelle von möglichen Auswirkungen einer grünen Transformation. Da überrascht das Ergebnis der aktuellen Bertelsmann-Studie nicht: Junge Menschen in Deutschland kritisch gegenüber Regierung und Medien.
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