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Kommentar: Warum Osnabrücks toter Kaufhof am hässlichsten Platz der Stadt nun mit Drecksäcken dekoriert wird

Es gibt Themen und Termine, da steht man als Journalist einfach nur fassungslos da und fragt sich, was soll man nach so einem Ortstermin dazu nun bitte schreiben?

Nun, es wird und muss ein höchstpersönlicher Kommentar sein, denn es sachlich zu „reporten“ fällt dem Verfasser dieser Zeilen einfach zu schwer. Daher die wichtige Anmerkung vorweg: Ein Kommentar von Heiko Pohlmann. Wohl wissend, dass einige Menschen mit mehr Kunstverstand das alles sicher ganz anders sehen werden.

Gleich vorweg und weil ich diese Frage in Zeiten leerer Kassen für zentral halte: 300.000 Euro wird es am Ende gekostet haben, damit von Anfang Juli bis Oktober das inzwischen leerstehende Gebäude des ehemaligen Kaufhof-Kaufhauses mit – man kann es nicht anders ausdrücken – „Drecksäcken“ behangen wird.
Wie sich die offenbar sprudelnden Geldquellen für die Kosten der „Kunst“ genau aufteilen, konnte die Kuratorin des Kunstwerks übrigens auf Nachfrage nicht sagen. Wichtig scheint vor allem: Das Geld war da, nun ist es bald weg.

„Ein Künstler, der nicht provoziert, wird unsichtbar. Kunst, die keine starken Reaktionen auslöst, hat keinen Wert.“

Nicht nur der Dauerprovakateur Marilyn Manson, der mit dem oben zitierten Ausspruch ein Wesensmerkmal zeitgenössischer Kunst auf den Punkt gebracht hat, sieht die Provokation als wichtigen Teil von Kunst an.
So gesehen macht der aus Ghana stammende Künstler Ibrahim Mahama wohl vieles richtig mit der aktuell laufenden Behängung der Kaufhaus-Fassade. Ich fühle mich als Bürger dieser Stadt und Steuerzahler tatsächlich provoziert! 

Vor 25 Jahren wurde schon einmal ein Gebäude in Osnabrück „verhüllt“

Mit Wehmut denke ich daran zurück, wie im Jubiläumsjahr 1998 der wirklich renommierte deutsche Künstler HA Schult ebenfalls ein Gebäude in Osnabrück verhüllte.
Damals waren es insgesamt 15.000 Kartons in allen möglichen Größen, auf denen 15.000 mal in allen Sprachen und Schriften das Wort „Frieden“ stand. Sinniger Name des Kunstwerks: „Friedensspeicher“. Verhüllt wurde ein ehemaliger Hafenspeicher der Firma Hellmann, die dem Vernehmen nach damals auch die Rechnung des Künstlers bezahlte.

Künstler Ibrahim Mahama im ehemaligen Kaufhof Osnabrück
Künstler Ibrahim Mahama im ehemaligen Kaufhof Osnabrück. / Foto: Pohlmann

Und nun, 25 Jahre später? Der Afrikaner Mahama wiederholt, was er schon unzählige Male getan hat unter anderem auch auf der Documenta 2017: Er verhüllt ein Gebäude mit gebrauchten Jutesäcken, in denen zuvor erst Kaffee und Kakao, später Zwiebeln und Kohle transportiert wurde.
Die Kaufhof-Verhüllung ist keine einmalige Aktion in einem sehr vielfältigen Kunstschaffen, wie bei HA Schult, eher eine Wiederholung eines schon sechs Jahre abgehangenen Kasseler Projekts.

Christo hätte sich durch staatliche Förderung in seinem Schaffen korrumpiert gefühlt

Auch wenn sich der Vergleich aufzudrängen scheint, diese Kunstaktion ist überhaupt nicht vergleichbar mit den Werken des Künstlerpaars Christo und Jeanne-Claude.
Während in Osnabrück vor allem „Müll“ das ausgediente Kaufhaus am Problemplatz Neumarkt verhüllen wird, nutzte Christo immer wieder eigens optimierte High-Tech-Materialien – speziell entwickelt für das jeweilige Projekt. Zahlreiche auf der Verhüllung basierende kleinere „Kunststücke“, signierte Skizzen und Fotografien finanzierten die Verhüllungsaktionen von Christo und Jean Claude.
Tatsächlich kostete die Verhüllung des Berliner Reichstags den Steuerzahler keinen einzigen Cent (damals noch „Pfennig“). Christo lehnte eine „Korrumpierung“ durch Fördergelder und selbst durch Sponsoren ab!

Studierende der Universität Osnabrück und zum Beispiel ein Kunstkurs der Ursulaschule helfen beim Zusammennähen der Leinensäcke
Studierende der Universität Osnabrück und u.a. ein Kunstkurs der Ursulaschule helfen beim Zusammennähen der Leinensäcke. / Foto: Pohlmann

Irgendwas mit Konsum, Welthandel, Kolonialismus und Nazis – nichts mit 1648

Aber zurück zum Friedensjahr 1648 und seinem Jubiläumsjahr 2023: Wo ist die Begründung, wo die Verbindung zum Friedensschluss in Münster und Osnabrück?

„Dürftig“, mehr fällt mir zur Herleitung des Kunstwerks nicht ein. Irgendwas mit „Konsumtempel“ (gemeint ist das alte Kaufhausgebäude), natürlich auch Nazis (weil die sich mal in einem Hotel getroffen haben sollen, das da stand, wo nun die Kaufhaus-Ruine steht) und internationalen Handelsbeziehungen, für die symbolisch die alten Jutesäcke stehen.
Die ausgedienten Jutesäcke, die der Künstler gegen neuwertige Säcke eingetauscht haben soll, kamen übrigens nur zum Teil aus Portugal und von vorherigen Kunstprojekten.

Im Erdgeschoss der Kaufhof-Immobilie stapeln sich dutzende Pakete (nach Aufschrift der Spedition sollen es 42 Packstücke gewesen sein). Die von Accra (Ghana) über Doha und Düsseldorf mit Qatar-Luftfracht nach Osnabrück gelangten. Gut, dass Osnabrück erst in Zukunft „klimaneutral“ werden will.
Ernsthaft? Ausrangierte Jutesäcke und Altkleider per Luftfracht verschicken? Irgendwie erinnert mich das daran, wie diese Stadt einst ebenfalls per Luftfracht Pflastersteine aus China einfliegen ließ. Nun also alte Drecksäcke aus Afrika im Gesamtgewicht von mehreren Tonnen – per Luftfracht!

Per Luftfracht über Katar nach Deutschland – so kamen die alten Säcke und Kleider nach Osnabrück
Klimaschutz bei städtischen Projekten? Per Luftfracht über Katar nach Deutschland – so kamen die alten Säcke und Kleider nach Osnabrück. / Foto: Pohlmann

Ein paar alte Kleider, teilweise genäht in der Grenzregion von Ghana zu Togo, werden auch an die Fassade gehängt. Der Künstler verweist auf die Kolonialgeschichte Deutschlands. Das an Ghana grenzende Togo war ja mal deutsch – ein bisschen wenigstens, auch wenn es nur von 1884 bis 1916 war.

Und sonst? Ja, in Osnabrück wurde auch mal Leinen gewoben. Zwar gehörte das Osnabrücker Leinen seinerzeit zum besten Leinen auf dem Weltmarkt und war sicher nicht zu vergleichen mit dem Material, aus dem ein paar hundert Jahre später die einstigen Kaffee-Säcke in Indien und China gewebt wurden. Aber auch daraus konstruieren der Künstler und seine Kuratorin eine Verbindung zu Osnabrück.
Wir trinken in Osnabrück auch Kaffee – allerdings in Europa erst seit der Belagerung Wiens im Jahr 1683 – leider zu spät um eine Verbindung zum Friedensjahr 1648 herzustellen.

Aber passt ja trotzdem: Irgendwas mit Kolonialzeit, ein arg konstruierter Bezug von hochwertigen Osnabrücker Leinen zu Kaffee- und Kohlesäcken und natürlich Nazis und Kapitalismuskritik (das Geld aus den Fördertöpfen nimmt man trotzdem gerne).

Sorry, für mich passt das alles überhaupt nicht. Hier war einfach zu viel Geld da, und das wurde unter anderem in alte Säcke und Luftfracht investiert. Ein Bezug zu den Jubiläums- und Friedensjahren 1648/2023 lässt sich nicht mal im Ansatz herstellen. Mein alter Kunstlehrer hätte das wohl mit „Thema verfehlt“ beurteilt – ich auch.

Wie gesagt: Ich bin mir bewusst, dass mehr „von der Muse geküsste“ Menschen, das sicher anders sehen werden. Kunst muss provozieren; ich fühle mich provoziert. Aber reicht das? Wollen wir 375 Jahre Westfälischer Friede so feiern?

 


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„Denken ist schwer, darum urteilen die meisten.“ (C. G Jung)
Bitte denken Sie mehr, Ihr Heiko Pohlmann.


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Heiko Pohlmann
Heiko Pohlmann
Heiko Pohlmann gründete die HASEPOST 2014, basierend auf dem unter dem Titel "I-love-OS" seit 2011 erschienenen Tumbler-Blog. Die Ursprungsidee reicht auf das bereits 1996 gestartete Projekt "Loewenpudel.de" zurück. Direkte Durchwahl per Telefon: 0541/385984-11

  

   

 

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