Was ist das für ein Brauch, bei dem sich die Politprominenz der Stadt zum Händchenhalten in historischer Kulisse verabredet?
Der „Handgiftentag“ ist vielleicht der älteste kontinuierlich fortgeführte politische Neujahrsempfang Deutschlands.
Seit 1348, also seit 667 Jahren, treffen sich die Ratsherren (inzwischen auch Ratsfrauen) kurz nach Neujahr im Rathaus. Dort wird mit einem „kräftigen Händedruck“ die Bereitschaft zum Wohle der Allgemeinheit tätig zu werden öffentlich besiegelt.
ursprünglich haben sich hier vor allem auch die Wähler, nicht allein die Gewählten die Hand gegeben
Die Ursprünge liegen in der jährlichen(!) Wahl des Stadtrats, zu der „am Tag nach Neujahr“ alle Bürger mit eigenem Hausstand zum Rathaus gerufen wurden.
Wahlberechtigt waren – auch das ist interessant – nur die Bürger, die selbst nicht schon mal im Rat gesessen hatten. „Insider“ waren als von den Wahlen ausgeschlossen. Im Übrigen galt „Wahlpflicht“, wer damals nicht zum entsprechenden Glockenschlag am Rathaus erschien, wurde mit „drei Schillingen Osnabrückischer Münze“ bestraft. So schreiben es die überlieferten Regeln der „Sate“, der Osnabrücker Stadtverfassung vor.
Kommunalwahlen finden in Niedersachsen – ungeachtet aller Traditionen – inzwischen nur noch alle fünf Jahre statt und die Stadt hat heute deutlich mehr Bürger als der Marktplatz zu fassen vermag (siehe Weihnachtsmarkt und Maiwoche).
Und während die Wähler heute „draußen“ bleiben müssen, wird die Kleinstfraktion der „Linken“ (zwei Mitglieder) vermutlich auch in diesem Jahr die Kosten des anschliessenden Festessens (6.000€) monieren, und werden am Montag ab 18 Uhr neben den Mitgliedern des Stadtrates auch allerlei andere Ehrengäste im historischen Friedenssaal erscheinen.
Oberbürgermeister Wolfgang Griesert wird auf die wichtigsten Ereignisse des Vorjahres blicken und die Ziele, für die er sich im neuen Jahr besonders einsetzen möchte, skizzieren. Im Anschluss sprechen die Vorsitzenden der im Rat vertretenen Fraktionen.
Die im stillen Kämmerlein des Verwaltungsausschusses entschiedene (vermutlich) erstmalige Verschiebung des Handgiftentages auf den 5. Januar, ist angesichts des allgemeinen Wandels dieser Tradition sicher zu verschmerzen. Hintergrund der Verschiebung ist das „Brücken-Wochenende“, das viele potentielle Teilnehmer (so wurde im es Verwaltungsausschuss angenommen) genutzt haben könnten um ihren Feiertags-Urlaub zu verlängern – es gibt halt keine Strafe mehr für das „Schwänzen“ dieses Termins.
Das diese Verschiebung in einem nicht-öffentlichen Ausschuss entschieden wurde, ist vielleicht viel interessanter als die Verschiebung selbst. Steht diese Verschlossenheit der heutigen Kommunalpolitik mit ihren zahlreichen nicht-öffentlichen Ausschüssen und Hinterzimmerbeschlüssen doch in krassem Widerspruch zu den geradezu basisdemokratischen Traditionen des Mittelalters. Vor ein paar hundert Jahren mussten sich die Ratsherren noch einer jährlichen „Qualitätskontrolle“ durch verpflichtende Wahlen unterziehen. Es waren vor allem die Bürger, die sich auf das Wohl der Stadt die Hand gaben – nicht allein die Politker. Vielleicht aber ist diese „Deligierung des Händeschüttelns“ an die Politik auch nur die logische Konsequenz einer allgemeinen Politikverdrossenheit, die gerade auch in der Kommunalpolitk immer mehr beklagt wird?
Das Foto (Quelle Presseamt der Stadt) zeigt neben den Mitgliedern des Stadtrates u.a. den Oberbürgermeister Wolfgang Griesert, seine Vorgänger Hans-Jürgen Fip und Boris Pistorius (jetzt Landesinnenminister), Möser-Medaillenträgerin Gisela Bohnenkamp und den ehemaligen Bundespolitiker und jetzigen Bundesbankvorstand Carl-Ludwig Thiele beim Handgiftentag 2014.
Heiko Pohlmann
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