Bis weit in das Mittelalter reicht die Osnabrücker Tradition des „Handgiftentags“, die nach zwei Corona-Jahren erstmals wieder feierlich im historischen Friedenssaal des Osnabrücker Rathauses durchgeführt wurde.
Oberbürgermeisterin Katharina Pötter stimmte die versammelten Ratsmitglieder und ihre Gäste auf schwierige Zeiten ein, die mit dem Ende von Corona nicht leichter werden.
Die formell erste Ratssitzung des neuen Jahres dient den Fraktionen und Ratsmitgliedern dazu, auf die Ereignisse des vergangenen Jahres zurückzublicken und sich öffentlich Gedanken darüber zu machen, was die Bürgerinnen und Bürger in Zukunft erwartet.
Zu den Gästen des Handgiftentages zählt traditionell neben den Ratsmitgliedern auch ein buntes Who is Who aus Wirtschaft, Kultur, der Osnabrücker Landes- und Bundespolitiker sowie der Verwaltungsspitze.
Oberbürgermeisterin Pötter, die coronabedingt ihre Premiere als oberste Handgiftenrednerin hatte, betonte, dass das Jahr 2022 uns gezeigt hat, dass wir nicht wissen können, was die Zukunft bringt und dass manchmal auch liebgewonnene Gewissheiten plötzlich verschwinden. Trotz politischer Unterschiede und Meinungsverschiedenheiten halten Osnabrückerinnen und Osnabrücker in schwierigen Zeiten zusammen. Die Oberbürgermeisterin betonte, dass das noch vor einem Jahr Undenkbare, sich am Abend mit allen Anwesenden die Hände schütteln zu können, ohne dass Maskenpflicht oder Abstandhalten notwendig sind, sie besonders freut. Doch die folgenden Themen ihrer Handgiftenrede zeigten auch, dass mit dem Ende von Corona die Herausforderungen für die Hasestadt nicht kleiner geworden sind.
Überfall auf die Ukraine wird sich in Osnabrück noch stärker bemerkbar machen
Der im vergangenen Jahr gestartete Angriffskrieg Russlands betrifft nicht nur die Ukraine, so Pötter. Und auch nicht nur die vielen Menschen in Russland, die nun gezwungen sind, ihre Nachbarn zu überfallen, sondern auch die Friedensstadt.
„Viele Osnabrückerinnen und Osnabrücker, die bislang gut über die Runden gekommen sind, haben Angst vor der nächsten Nebenkostenabrechnung. Sie haben sich bislang als Teil einer soliden Mittelschicht gesehen, die dank harter Arbeit gut abgesichert ist. Sie fürchten nun den sozialen Abstieg“, so die Oberbürgermeisterin.
Diese Situation birgt „großen sozialen Sprengstoff“, mahnte Pötter und appellierte an die Ratsmitglieder und Gäste: „Wir müssen den Menschen, die in diesen Tagen Angst vor der Zukunft haben, glaubhaft versichern, dass wir sie nicht alleinlassen werden!“
Katharina Pötter erinnerte vor dem Hintergrund der Kriegshandlungen auf europäischem Boden auch an die Flüchtlingsfrage, da die Zahl der hilfesuchenden Menschen wieder deutlich ansteigt und es Schwierigkeiten gibt, ihnen angemessene Unterkünfte zu bieten.
Wohngeld, Stadtwerke, Klinikum: Zahlreiche „Baustellen“ zu bewältigen
Eine weitere Herausforderung sei die Reform des Wohngeldes, bei der die Zahl der Berechtigten deutlich ansteigen wird, und die Anträge nicht schnell genug bearbeitet werden können.
Die Schwierigkeiten der Stadtwerke, die teilweise hausgemacht sind, sind ebenfalls ein Thema für das neue Jahr, bei dem es das Ziel ist, Strukturen zu schaffen, die das Unternehmen wieder stark machen. Die strukturelle Unterfinanzierung des städtischen Klinikums und der Pflegenotstand, der dazu führt, dass Operationssäle leer bleiben, weil Patienten nicht gepflegt werden können, sind weitere Probleme, die angesprochen wurden.
Bauen wird teurer – gleichzeitig soll gespart werden
Die steigenden Baukosten, die sich auf zahlreiche Projekte auswirken und mit dem Ratsbeschluss zur Haushaltskonsolidierung kollidieren, stellen ebenfalls eine Herausforderung dar. Trotz dieser Schwierigkeiten betonte die Oberbürgermeisterin, dass sie optimistisch in die Zukunft blickt und daran glaubt, dass die Stadt Osnabrück diese Herausforderungen gemeinsam meistern wird.
Modernisiert werden müssen nicht nur Kitas, Schulen und Gemeinschaftszentren, auch die Stadthäuser und das Rathaus, auch der städtische Fuhrpark mit den Fahrzeugen des Osnabrücker ServiceBetriebs. Pötter betonte eine „bewährte Kooperation von Kämmerer Thomas Fillep und Stadtbaurat Frank Otte„, auf die viel Arbeit für die Zukunft unserer Stadt zukommen wird – auch hinsichtlich der Aufgabe, den Straßenverkehr für Radfahrer sicherer zu machen.
Muss auch an der Bildung gespart werden?
Problematisch werden die Planungen für die Oberschulen, die von der Oberbürgermeisterin explizit angesprochen wurden: „Wir werden die derzeitigen Baupläne für die Oberschulen überdenken müssen. Was haben wir jahrelang um einen guten schulpolitischen Kompromiss gerungen! Und es liegt mir fern, den erzielten Konsens nun wieder infrage zu stellen. Aber auch bei diesem Thema können wir nicht einfach so tun, als habe sich unsere Welt nicht verändert. Wir müssen der Wahrheit ins Auge sehen, dass sich Sanierung, Um- und Neubauten nicht so finanzieren lassen werden, wie wir uns das gedacht haben.“ Erste Gespräche mit Sozialvorstand Wolfgang Beckermann sollen bereits geführt worden sein, „weitere werden nötig sein“.
Als besonders positive Entwicklungen stellte die Oberbürgermeisterin die Entwicklung des auch intensiv aus Landesmitteln und von der Aloys & Brigitte Coppenrath-Stiftung geförderten Lokviertels, der Entwicklung am Limberg sowie die Neubauten entlang der Möserstraße heraus.
Katharina Pötter zeigte sich zudem überzeugt, dass die Lindhorst-Gruppe an den Johannishöfen festhalten wird und damit der Neumarkt und die angrenzende Johannisstraße profitieren werden.
Aktuell sei die Johannisstraße allerdings noch ein Problemfall für die Hasestadt, da sich von den Zumutungen der vergangenen Jahre noch nicht ganz erholt hat, aber inzwischen saniert ist.
Problemfall Johannisstraße offen angehen
Pötter betonte, dass es an diesem Brennpunkt weiterhin Probleme wie die Alkohol- und Drogenszene, aber auch gewaltbereite junge Männer gebe, von denen einige einen Migrationshintergrund haben und sich von der Gesellschaft abgehängt fühlen.
Die Oberbürgermeisterin warnte vor rassistischen Reaktionen auf dieses Problem und betonte, dass die überwältigende Mehrheit der Zugewanderten gut integriert in Deutschland lebt und sich vielfältig engagiert. Sie rief dazu auf, die Gründe für diese Probleme zu untersuchen und nach Lösungen zu suchen.
Die Oberbürgermeisterin betonte auch, dass die Stadt Osnabrück trotz dieser Schwierigkeiten optimistisch in die Zukunft blickt und daran glaubt, dass sie diese Herausforderungen gemeinsam meistern wird.
Wichtige Impulse durch Friedensjubiläum, Markenprozess und Startups
Wichtige Impulse für Osnabrück erwartet Katharina Pötter durch die Feiern zum 375. Jubiläum des Westfälischen Friedens in diesem Jahr, sowie durch den aktuell laufenden Prozess, die „Marke Osnabrück“ zu entwickeln.
Osnabrück sei eine „Stadt mit hoher Anziehungskraft“, wozu unter anderem das zukünftige Zentrum für künstliche Intelligenz im Ringlokschuppen beitragen werde, wie das weiter zunehmende Angebot für Startups, zu dem das Seedhouse im Wissenschaftspark, das SmartCityHouse im Hafen und der Healthcare Accelerator am Berliner Platz gehören.
„Hieran müssen wir anknüpfen und auch den Verwaltungsbereich endlich auf digitale Prozesse neu aufbauen“, forderte Pötter mit Blick auf die Stadtverwaltung, „Innovationen müssen auch in den Stadthäusern künftig viel schneller ein- und umgesetzt werden. Daher möchte ich, dass ein weiterer Accelerator schon bald dazukommt“. Damit wird Osnabrück, das bereits als Startup-Zentrum in Niedersachsen gilt, „ein echtes Alleinstellungsmerkmal bekommen“. Um das zu erreichen, will die Oberbürgermeisterin auch das Innovationscentrum (ICO) im Wissenschaftspark „neu aufstellen“.
Ehrlich gegenüber dem Bürger bleiben
Abschließend appellierte die Oberbürgermeisterin auch für mehr Ehrlichkeit gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern in den aktuell nicht einfachen Zeiten: „Wir müssen anderen helfen, wir müssen uns im Jahr 2023 aber auch ehrlich machen. Wir dürfen den Bürgerinnen und Bürgern nicht Dinge versprechen, die wir nicht halten können. Die Auswirkungen der gegenwärtigen globalen Verschiebungen lassen sich kommunal nicht einfach entkräften. Ein Zurück zur alten Normalität wird es nicht geben, auch wenn der Krieg in der Ukraine irgendwann vorbei sein wird!“
Parteienvertreter ebenfalls in Sorge über Krieg und Klimawandel
Auch die Vertreter der im Rat vertretenen Gruppen und Fraktionen betonten in ihren anschließenden Redebeiträgen, die Herausforderungen durch den Krieg in der Ukraine, die Situation im Iran, den Klimawandel und vor allem die wirtschaftlichen Herausforderungen, die auf die Stadt noch zukommen werden.
Bevor es zu einem zwanglosen Beisammensein in den Ratskeller ging, kam es zum traditionellen „Handgiften“ und dem gemeinsamen Versprechen, sich auch im kommenden Jahr gemeinsam und über die Parteigrenzen hinweg für die Stadt und ihre Bürgerinnen und Bürger einzusetzen.