Auf Einladung der Osnabrücker CDU referierte am Mittwoch Handelsexperte Professor Gerrit Heinemann vom eWeb Research Center der Hochschule Niederrhein, ein ausgewiesener Experte des eCommerce und des stationären Handels ,bei einer öffentlichen Fraktionssitzung und Informationsveranstaltung zum Thema „Zukunft des Handels & Entwicklung der Innenstädte“.
Grüne bezeichnen Berater der rot/grünen Landesregierung als „Schmalspur-Experten“
Der Einladung waren zahlreiche Vertreter aus Handel, Verbänden und Politik gefolgt. Es fehlten allerdings Mitglieder der Grünen Ratsfraktion, die dennoch am Donnerstagnachmittag in einer Pressemitteilung ordentlich Kontra gaben. So wurde per Fernanalyse – vermutlich nach Lektüre eines bereits online erschienenen Artikels der NOZ (Abruf ggf. kostenpflichtig) – die Veranstaltung als „Karnevalsscherz“ bezeichnet und der Hochschullehrer, der auch die rot/grüne NRW-Landesregierung berät, als „Schmalspurexperte“ geschmäht.
Handelsexperte, der früher selbst Warenhausdirektor war
Mit einer 20-jährigen Handelserfahrung in namhaften Unternehmen, bei der er zeitweise sogar als Warenhausdirektor für den Kaufhof-Konzern tätig war, dürfte Heinemann zu den profundesten Kennern der deutschen Handelslandschaft zählen. Der gebürtige Osnabrücker Heinemann kennt nach eigenen Angaben fast jede deutsche Stadt und behauptet von sich, über das notwendige „Handwerkszeug“ zu verfügen, um zur Erhaltung der Attraktivität von Innenstädten beizutragen und dem Onlinehandel erfolgreich zu trotzen.
Onlinehandel wächst ungebremst
Zu Beginn seines Vortrags präsentierte Professor Heinemann aktuelle Zahlen, die viele anwesende Einzelhändler beunruhigt haben dürften.
Der Onlinehandel wächst rasanter als angenommen. Oft sind es die Paketdienste, die als Engpass dafür sorgen, dass der eCommerce nicht noch schneller wachse.
Bereits 70% der Erwachsenen, die ein Geschäft betreten, sind heute irgendwo schon Online-Kunde. Diese Kunden haben bestimmte Erwartungen, der Einkauf im stationären Handel wird von ihnen oft online „vorbereitet“, sie informieren sich im Vorfeld über Ebay, Google oder Amazon über das anvisierte Produkt.
Auch lokale Händler müssen ins Netz
„Wer keinen Onlineshop hat, wird nicht gesehen“, so Professor Heinemann. Es müsse gar nicht sofort der große Wurf sein, eine einfache Onlinepräsenz mit den wichtigsten Informationen wie Öffnungszeiten, der Anfahrt, Parkmöglichkeiten und ein paar Angeboten und dargestellten Artikeln reiche erst mal für den Anfang aus.
Eine Riesenchance für den stationären Einzelhandel wäre bereits bloße Anzeige der Warenverfügbarkeit für die Kunden, „denn Einkaufen ist für Kunden Streß.“
„Click and collect“ ist hier ein wichtiges Stichwort, der Kunde kauft die Ware online, holt sie aber im stationären Einzelhandel ab. Vorteile für den Kunden sind die Versandkostenersparnis, die flexible Abholung vor Ort, auch können Kleidungsstücke noch probiert oder die Elektronikware noch begutachtet werden. Barzahlung vor Ort wäre ebenfalls möglich. Eine riesige Chance sieht Heinemann in Initiativen lokale Lieferdienste aufzubauen, um innerhalb der Stadt und von lokalen Händlern aus taggleiche Lieferung anbieten zu können.
Einzelhändler leiden unter „Digitalisierungsallergie“
Professor Heinemann verwies darauf, dass bei vielen Einzelhändlern seiner Ansicht nach noch eine „Digitalisierungsallergie“ herrschen würde und viele Händler über kein digitales Warenwirtschaftssystem verfügten. Wenn diese grundlegende Voraussetzung für den Onlinehandel fehlen und keine Bereitschaft herrscht selbst einfache Softwareprodukte, die bereits für monatlich 50 Euro geleast werden können, dann haben diese Händler eigentlich schon aufgegeben, so Heinemann.
Innerhalb der kommenden Jahren werden wir uns von Einzelhändlern im zweistelligen Prozentbereich verabschieden: „Die kommen auch nicht wieder“.
Kunden oft besser informiert als Händler
Studien zeigen, dass 7 von 10 Kunden im stationären Handel meinen, dass sie besser informiert sind als das Ladenpersonal – ein Alarmsignal!
Statt Informationen vom Verkäufer erwarten sie vor Ort einen Internetzugang via WLAN, damit sie sich mit Freunden über die Produkte in den sozialen Netzwerken austauschen können, um so ein direktes Feedback zu dem Produkt zu erhalten. Ein WLAN im Handel ist somit für die Kaufentscheidung von Vorteil.
Ein flächendeckendes WLAN im gesamten Stadtbereich sei ein wichtiger Aspekt der Attraktivität für Käufer und Besucher, so Heinemann [Aktuell besitzt Osnabrück nur ein rudimentäres und gut getarntes öffentliches WLAN, die Redaktion].
91% der Händler gingen davon aus, sie würde die Wünsche der Kunden erfüllen, ein Irrtum so Professor Heinemann und spricht von der Froschteichtheorie: „Wenn man den See trocken legen möchte, muss man nicht die Frösche fragen.“
Der Kunde ist längst emanzipiert und hat eine Alternative: Den Onlinehandel. Im vergleich zu einem gut sortierten warenhaus, mit vielleicht 200.000 Artikeln, glänzt Amazon mit einem Artikelstamm von 2 Millionen Artikeln.
Wenn der Handel auf diese Herausforderung nicht reagiert, werden die Auswirkungen dramatisch sein, das zeigt ein Blick in die USA, die uns im Schnitt in der Entwicklung etwa vier Jahre voraus sind.
Die Aufgaben der Stadt: Sauberkeit, Ambiente und Flair
Osnabrück punktet mit seiner gut erhaltenen und attraktiven Altstadt mit historischer Bedeutung, allerdings sollten die Geschäftszeiten und Vorschriften bezüglich der verkaufsoffenen Sonntage gelockert werden. Baunutzungsverordnungen sollten den angepasst werden um ehemals vom Handel genutzte, leerstehende Gebäude in Wohnungen umzuwandeln. Das Stadtbild würde dadurch wesentlich aufgewertet, so Heinemann, der auch nicht davor zurückschrecken würde ganze Einkaufsstraße und selbst Fußgängerzonen neu zu definieren und zurückzubauen.
Gut erreichbare Parkmöglichkeiten, deren Parkgebühren sich in einem Rahmen bewegen, der nicht über den typischen Versandkosten liegt, sind essentiell im Wettbewerb mit dem Onlinehandel. Ein wesentliches Argument für den Käufer im stationären Handel sind die ersparten Versandkosten – wenn er diese Ersparnis wieder in Parkgebühren investieren muss, kauft er zukünftig gleich online und spart sich den Weg in die Stadt.
Selbstverständlichkeiten, wie saubere und frei zugängliche Toiletten und Wickelmöglichkeiten in den Geschäften, eine saubere Innenstadt, Sitzgelegenheiten und die Möglichkeit kostengünstig zu essen – wie in einer Shoppingmall – sind nach Ansicht des Handelsexperten ebenfalls essentiell.
Ist der ÖPNV bereits ausgereizt?
Zur Frage der Nutzung von Bussen und Bahnen hat Professor Heinemann eine sehr klare Antwort: Die Nutzung wird sich nicht mehr steigern, sie seien „zu spät und zu gefährlich.“
Das Auto hingegen bietet Privatsphäre und Komfort auf den der Kunde nicht bereit sei zu verzichten, eine Umerziehung hält der Hochschullehrer für wenig erfolgreich: Das würde selbst in Ehen nur zu 0,01% funktionieren.
Für die gesamte Innenstadt sei ein Profi-City Management nötig. Ein gesunder Branchenmix in der Innenstadt, um die Kunden vom Sofa und dem Onlineshopping weg in die Stadt zu holen. Dazu sei es aber erst mal wichtig, in die Stadt kommen zu können!
Eine gelungene Verkehrsstruktur sei essentiell wichtig für eine attraktive Einkaufsstadt, wer hier eine Weile im Stau gestanden hätte, „der überlegt es sich, ob er noch einmal in die Stadt kommt“, so Professor Heinemann. Wenn es oberirdisch nicht ginge, müsse man unterirdische Verbindungen schaffen. In den Niederlanden sei man hinsichtlich Stadtplanung und Architektur deutlich weiter, so der Wissenschaftler vom Niederrhein.
Keine Experimente in Osnabrück!
Städte mit sehr hoher Zentralität wie Osnabrück müssen aufpassen, damit die Kunden aus dem Umland nicht aufgrund mangelnder Attraktivität in andere Städte abwandern. Osnabrück sei hier ein Paradebeispiel, der hohe Zentralitätsindex der Stadt ist ein deutliches Signal dafür, dass man sich keine Experimente leisten darf.
Ein Einkaufscenter mache nur Sinn, wenn es Magnetwirkung entfalten würde und Kunden anziehe, dafür fehle es aber an der dafür notwendigen Fläche die mindestens 50.000 Quadratmeter betragen müsse. Statt eines Einkaufscenters wäre es effektiver und gewinnbringender, wenn die ganze Stadt in Kooperation mit den lokalen Händlern eine gut erreichbare Einkaufsstadt werden würde.
Ein Pilotprojekt des Onlinehandelns über eine lokale ebay-Plattform begleitete der Professor in Mönchengladbach, wo sich 70 Händler zusammentaten und ihren Umsatz sofort um 7% steigerten.
Professor Heinemanns Vortrag kann als Brandrede betrachtet werden. Zusammengefasst: „Jahr für Jahr werden mehr Umsätze ins Internet abwandern. Am Anfang wird es ein Rinnsal sein, am Ende ein reißender Strom. Es ist eine Einbahnstraße. Was weg ist, kommt nicht mehr zurück.“ Nur wenn die Innenstadt gut erreichbar bleibt, sauber ist und den auswärtigen Kunden günstiges Parken ermöglicht wird, hat sie eine Chance.
Als Professor Heinemann vom Publikum in der anschließenden Diskussionsrunde gefragt wird, ob er das Einkaufscenter am Neumarkt bauen würde, überlegt er nicht lange: „Nein, ich würde das größte Parkhaus Deutschlands bauen!“