Sie haben es schon wieder getan. Der Allgemeine Studierendenausschuss (AStA) Osnabrück provoziert erneut mit einem Ersti Beutel, auf den der Slogan „Für Deutschland keinen Finger krumm – 24 Semester Minimum. Jetzt erst recht“ gedruckt wurde. Die umstrittene Aktion sorgt für Ärger, der AStA sieht sie als Kritik am Bildungssystem.
Jedes Jahr werden die Osnabrücker Erstsemester vom AStA mit einem „Ersti-Beutel“ begrüßt. In diesem finden sich Stifte, Hefte und nützliche Unterlagen. Vor zwei Jahren war der Beutel mit dem Slogan „Für Deutschland keinen Finger krumm, 20 Semester Minimum“ bedruckt. Das sorgte für wütende Reaktionen, 2019 wurde auf eine weitere Provokation verzichtet. In diesem Jahr steht der Spruch erneut und sogar in verschärfter Form auf dem Beutel, Kritik lässt auch jetzt nicht lange auf sich warten:
AStA verbreite linksextreme Ideologie
„Der AStA einer Universität soll die gesamte Studierendenschaft vertreten. Der AStA Osnabrück repräsentiert jedoch nur einen winzigen Bruchteil der Studierendenschaft – und dass, obwohl die gesamte Studierendenschaft den AStA durch ihre Semesterbeiträge mitfinanziert. Anstatt die neuen Studierenden zu motivieren, ihr Studium bestmöglich zu
absolvieren, wird eher versucht, eine linksextreme Ideologie zu verbreiten. Extremistische Einstellungen sind an der Universität jedoch fehl am Platz.“, erklärt Niklas Müller, Vorsitzender der Liberalen Hochschulgruppe Osnabrück. Rémy de Silva (Stv. Vorsitzender) ergänzt: „Wir können glücklich sein, in einem Staat zu leben, der keine Studiengebühren mehr erhebt und die Semesterbeiträge durch verschiedene Möglichkeiten der Finanzierung
stemmen lässt – sei es BAföG, einem KfW-Kredit oder anderen Regelungen. Dass nicht alles perfekt ist, dass der Staat die Studierenden, während der Coronakrise viel zu wenig unterstützt und viel zu wenig in die digitale Infrastrukturen und Weiterbildungen investiert, darf und muss dagegen kritisiert werden.“
Kritik auch von der Jungen Union
Auch die Junge Union übt scharfe Kritik an der Aktion des AStAs: „Der AStA Osnabrück beeindruckt mal wieder mit großartigen Vorschlägen zur Verbesserung der universitären Lehre in Deutschland. Beutel mit dem Aufdruck ‚Für Deutschland keinen Finger krumm – 24 Semester Minimum. Jetzt erst recht‘ wurden an die neuen Erstsemester verschenkt. Damit erreicht der AStA Osnabrück mal wieder einen Spitzenplatz in Sachen Provokation und Destruktivität. Systematisch dabei nicht besser als extreme Gruppierungen: Provozieren, schockieren – aber die Situation nie wirklich verbessern.“, so Mathis Striedelmeyer, Pressesprecher der Jungen Union Osnabrück-Stadt. Die JU begrüße konstruktive und reflektierte Kritik am Bildungswesen und Vorschläge, die zur Verbesserung der Situation von Studenten in der aktuellen Situation beitragen – aber keinen linken Populismus.
Ausführliche Stellungnahme des AStAs
Der Osnabrücker AStA will mit dem provokanten Spruch Kritik am Bildungssystem üben. In der folgenden, am 7. November veröffentlichten Pressemitteilung, werden die Hintergründe der Aktion erläutert:
„Für Deutschland keinen Finger krumm, 20 Semester Minimum – das war der Spruch, der im Wintersemester 2018 die Erstibeutel des AStA zierte – Shitstorm inklusive.
Zwei Jahre später befinden wir uns nun in einer globalen Pandemie, in der die Studierenden von Landes- und Bundesregierung weitestgehend alleine gelassen werden. Wir finden uns in einer Situation wieder, in der die Unzulänglichkeiten des Bildungssystems, die wir schon seit Langem kritisieren und auf die unser damaliger Beutelspruch aufmerksam machen sollte, nicht nur offensichtlicher gemacht, sondern auch noch verschärft werden.
Die finanzielle Situation der Studierenden ist dabei ein zentrales Problem. Im Zuge der Pandemie und der ihr bedingten Maßnahmen sind zahlreiche Nebenjobs weggebrochen – insbesondere in der Gastronomie oder auf Messen, in denen Studierende besonders häufig ihr Geld verdienen. Die finanzielle Unterstützung von Bundesbildungsministerin Anja Karliczek ist absolut unzulänglich und schafft es nicht einmal im Ansatz, die so entstandene Notsituation der Studierenden einzudämmen: diese „Überbrückungshilfe“ kam viel zu spät und ist jeden Monat mit einem absolut irrsinnigen Antragsprozess verbunden. Zudem wird ein Antrag nur dann angenommen, wenn Studierende ihre Rücklagen praktisch restlos aufgebraucht haben – und dann wird nur noch bis 500 € aufgestockt. 500 € von denen Studierende ihre (immer teurer werdende) Miete bezahlen, den Semesterbeitrag und eventuell neue technische Geräte zur Bewältigung der digitalen Lehre finanzieren, oft noch etwa 100 € an die Krankenkasse abdrücken und sich irgendwie auch noch ernähren sollen. 500 € reichen nicht zum Leben! Seit diesem Monat ist die Nothilfe nun auch noch „pausiert“ – wir stehen also wieder ohne jegliche Hilfe da, als wären die Pandemie und ihre wirtschaftlichen Folgen inzwischen an uns vorüber gegangen. Nachdem seit März 40 % der Studierenden ihre Jobs verloren haben, bleibt somit Hunderttausenden die Wahl zwischen Studienabbruch und Überschuldung. Dies trifft natürlich vor allem diejenigen Studierenden, die eben nicht auf Vermögen und Einkommen ihrer Eltern zurückgreifen können und damit im Bildungssystem ohnehin schon mit zusätzlichen Belastungen zu kämpfen haben. Der Öffnung des BAföG für alle Studierenden, die wir schon seit Jahren fordern und die zumindest für die Zeit der Pandemie ein Stück Planungssicherheit zurückbringen könnte, verweigert sich Karliczek übrigens weiterhin kategorisch – und das obwohl 2019 etwa 900 Millionen Euro der für das BAföG veranschlagten Mittel nicht ausgezahlt wurden. Den stetig sinkenden Anteil an BAföG-Empfänger*innen (-5,5 % im Vergleich zu 2018) beurteilt sie sogar positiv, da diese Entwicklung ja Konsequenz der wirtschaftlich guten Lage sei. In Anbetracht der hohen Anzahl der Studierenden, die ihr Studium durch Nebenjobs finanzieren müssen (68 % arbeiten neben dem Studium), kann diese Einschätzung Karliczeks nur irgendwo zwischen bodenloser Frechheit und gefährlicher Ignoranz eingeordnet werden.
Doch Studienfinanzierung ist nicht der einzige Missstand unseres Bildungssystems. So stellen wir uns auch entschieden gegen die fortschreitende Ökonomisierung der Bildung. Diese Ökonomisierung beinhaltet zum einen, dass Universitäten immer mehr marktwirtschaftlichen Zwängen ausgesetzt und damit immer abhängiger von Fördergeldern aus Unternehmen (mit all ihren wirtschaftlichen Interessen) werden. Dies liegt insbesondere auch an der mangelnden Finanzierung der Hochschulen durch den Staat. Zum Anderen bedeutet Ökonomisierung der Bildung auch, dass die Lehre immer weiter einer wirtschaftlichen Logik unterworfen wird: welches Wissen vermittelt wird, wird mehr und mehr auf Basis des Kriteriums entschieden, welches Wissen den meisten Profit einbringen kann. Dies äußert sich auch hier in Osnabrück beispielsweise durch die Schließung des kunsthistorischen Institutes – entgegen der Proteste der Studierendenschaft und übrigens auch entgegen der Empfehlung des Senats (des höchsten Gremiums der Universität). Zudem wurden Studiengänge mehr und mehr verschult, damit die Absolvent*innen maximal vergleichbar bleiben und möglichst effektiv auf ihren späteren Beruf vorbereitet werden; die Entwicklung einer (gesellschafts-)kritischen Perspektive, die unserer Meinung nach zentraler Aspekt des universitären Bildungsauftrages darstellt, rückt dabei mehr und mehr in den Hintergrund.
In diesem Kontext müssen auch die gesellschaftlichen Erwartungen und Zwänge (z. B. durch die BAföG-Regelungen) betrachtet werden, das Studium innerhalb der Regelstudienzeit abzuschließen. Zunächst verkennen diese Erwartungen die Lebensrealitäten einer heterogenen Studierendenschaft: Denn wenn Studierende ihre Existenz zum Großteil oder sogar vollständig durch Lohnarbeit finanzieren müssen, Sorgearbeit für ihre Kinder oder pflegebedürftige Angehörige leisten oder selbst mit chronischen (körperlichen oder psychischen) Erkrankungen oder Behinderungen leben, ist ein Bachelorstudium in sechs Semestern eben nicht ohne Weiteres möglich. Auch hält der Zwang zur Regelstudienzeit Studierende aktiv davon ab, sich über ihre verschulten Studiengänge hinaus zu bilden oder sich aktiv in hochschulpolitischen Prozessen einzubringen und so womöglich doch noch eine kritische Perspektive auf Wissenschaft, Bildung und Gesellschaft zu entwickeln.
Diese durch das Pochen auf Regelstudienzeit entstehenden Probleme werden wiederum durch die Pandemie noch verschärft, wenn der niedersächsischen Minister für Wissenschaft und Kultur, Björn Thümler, unseren Studierenden eine schnelle und unkomplizierte Regelung zur Nicht-Anrechnung des vergangenen Semesters verwehrt. Nun klopft er sich sogar noch selbst dafür auf die Schulter, dass er uns (im Gegensatz zu 80 % der Studierenden in Deutschland) solch eine Nicht-Anrechnung des Sommersemesters 2020 nicht früher beziehungsweise noch nicht abschließend zugesprochen hat. Auch hier wieder: irgendetwas zwischen Frechheit und Ignoranz.
Wenigstens in dieser Hinsicht könnten sich die zahlreichen Demonstrationen, Umfragen, Gespräche und Briefe der Studierendenvertretungen letztlich aber doch noch gelohnt haben, denn die Landesregierung konnte sich endlich dazu durchringen, die Nicht-Anrechnung zumindest auf den Weg zu bringen – wann und wie genau das umgesetzt wird und ob wir mit der konkreten Umsetzung zufrieden sein können, bleibt abzuwarten.
Die Studienanfänger*innen 2020 treten der Universität und der Studierendenschaft zu einer sehr schwierigen Zeit bei. Die durch die Pandemie notwendig gewordenen Hygienemaßnahmen bedeuten ein breites Fortlaufen der digitalen Lehre, die – wohl sowohl aufgrund des Formates an sich als auch aufgrund der oft unzulänglichen Schulung von Lehrenden und einer fehlenden Entlastung zum Auffangen der ihnen entstehenden Mehrarbeit – auch mit einem Verlust an Lehrqualität verbunden ist.
Natürlich hoffen wir, dass die Erfahrungswerte des letzten Semesters eine Verbesserung für die Studienanfänger*innen mit sich bringen; doch Lehre während der Pandemie ist und bleibt eine Herausforderung für Studierende wie Lehrende.
Die Maßnahmen erschweren natürlich auch maßgeblich das Kennenlernen von Mitstudierenden, mit denen gemeinsam gelernt aber auch einfach gelebt werden kann. Gerade für die vielen jungen Studierenden, die sich erst einmal an eine völlig neue Situation gewöhnen müssen, ist es essentiell, am Anfang ihres Studiums auch sozialen Anschluss zu finden. Doch auch wenn diese Faktoren den Studieneinstieg und das Studium generell schwieriger machen, sind sie zum Eindämmen der Pandemie zumindest größtenteils notwendig. Das Versagen von Anja Karliczek und Björn Thümler hingegen ist dies ganz und gar nicht. Die Akteur*innen der Bildungspolitik auf Landes- wie Bundesebene haben uns alleine gelassen, unsere Probleme ignoriert und unseren Protest wegmoderiert; sie haben einfach zugesehen und sehen weiterhin einfach zu, wie 1 Million Studierende in Not geraten sind, anstatt uns zu helfen. Sie haben zugelassen, dass die Probleme des Bildungssystems sich im Zuge der Pandemie zu einer absoluten Bildungskatastrophe entwickeln, in der schon bestehende Bildungsungerechtigkeiten sich zunehmend verschärfen.
Wenn die Politiker*innen für die Studierenden keinen Finger krumm machen, kann im Gegenzug kein Applaus von studentischer Seite erwartet werden.
Deswegen: Für echte Studihilfe. Für das Solidarsemester. Für die Öffnung des BAföG. Für bessere (unternehmensunabhängige) Finanzierung von Hochschulen. Für (gesellschafts-)kritische Bildung.
Deswegen: Für Deutschland keinen Finger krumm, 24 Semester Minimum! – jetzt erst recht!