Am 19. März 2021 war der „Global Strike Day“ der Klimaschutzorganisation Fridays for Future. Auch in Osnabrück fand eine Demonstration statt – mit der Folge, dass sich der Verkehr insbesondere am Wallring staute.
Für fast mehr Aufregung als der Stau sorgte allerdings ein Facebook- beziehungsweise Instagram-Teaser auf der Seite der HASEPOST:
„Aktuell geht auf den Osnabrücker Wällen nichts mehr… Grund ist die Demonstration von „Umweltaktivisten“ von #FFF. Wie wäre es kommende Woche mit: „Kuscheln für den Infektionsschutz““ oder „ungeschützter Sexualverkehr“ um für Verhütung zu werben!? 🤔“
Kurz darauf veröffentlichte der Autor des Postings den Kommentar „Kuscheln für den Infektionsschutz“, der hier einsehbar ist. Die Ortsgruppe Fridays for Future Osnabrück wendet sich nun in einem Leserbrief an unsere Redaktion, den wir im Folgenden im Wortlaut veröffentlichen.
Leserbrief der Ortsgruppe Fridays for Future Osnabrück
„Kritik muss erlaubt sein, da stimmen wir Ihnen – Herrn Pohlmann – zu, aber ob sie auch unsachlich und inhaltlich widersprüchlich daherkommen sollte, ist sicher eine Frage der Diskussionskultur. Es ist wirklich schade, dass Sie sich offenbar nur sporadisch mit unseren Anliegen, Aktionen und Forderungen auseinandergesetzt haben. Wir freuen uns aber, diesen Diskurs öffentlich führen zu können, da wir unseren Protest, der letztendlich das Leben aller verbessern soll, gerne auch vor kritischen Stimmen legitimieren möchten, und werden daher versuchen ganz sachlich einige (steile) Thesen des Kommentars aufzuarbeiten.“
Flüssiger Verkehr ersetzt keine Klimawende
„Den Straßenverkehr „flüssiger“ zu gestalten ist – abgesehen von der expliziten Situation am Freitag, in der der Hinweis auf Verhältnismäßigkeit als Erklärung ausreichen sollte – eine sinnvolle Maßnahme, ersetzt aber aus Klimaschutzperspektive keine Verkehrswende. Schlecht steht es auch um die Radfahrfreundlichkeit in Osnabrück, wie aktuelle Umfragen nahelegen (Note 4,3 – die Hasepost berichtete). Die Umsetzung des Radwegeverkehrsplans lässt unterdessen zu wünschen übrig.“
Pandemie verdrängt Umweltschutz
„Grundsätzlich begrüßen wir es natürlich, dass die „Treibhausgase [in Osnabrück] um stattliche 11,4 Prozent gegenüber dem Vorjahr gesunken“ sind, aber ganz offensichtlich ist dies nicht „trotz“ der vorherrschenden Pandemie passiert. Selbst der Artikel, den Sie als Quelle anführen, schreibt, „dass gut ein Drittel der Minderungen auf die Folgen der Corona- Pandemie zurückzuführen seien, vor allem im Verkehrs- und Energiebereich […] zum Ausruhen gebe es nun wirklich keinen Anlass“. Das sehen wir genau so. Die Pandemie hat zahlreiche gesellschaftliche Missstände ins Rampenlicht gerückt, den Umweltschutz allerdings daraus verdrängt. Die Erfahrung zeigt, dass Onlineprotest fast nur offene Türen einrennt und die Straße ein wichtiger Austragungsort der Demokratie bleibt. Dass sich „die Sache mit dem Verkehr ohnehin bald erledigt“, ist ohne die aktive Umweltbewegung wohl kaum denkbar.“
Wirtschaft über Umwelt?
„Auf die Coronatauglichkeit unserer Aktion sind Sie ja eigentlich gar nicht eingegangen, zumal, wie man im „Hallo Niedersachsen“ Beitrag des NDR sehen kann, selbst die Polizei sich zufrieden über unsere Infektionsschutzmaßnahmen äußerte. Stattdessen führen Sie eine an Konsumkritik erinnernde Logik ins Feld, nach der eine Umweltaktivistin weder mehr Nahrung als unbedingt notwendig zu sich nimmt, noch Freizeitaktivitäten nachgehen dürfte, da auch diese CO2-Äquivalente ausstoßen. Gleichzeitig sind die Menschen in den Autos „Wirtschaftsretter“. Dass sie deswegen besonders vor den Auswirkungen von politischer Teilhabe geschützt sein sollten, zeigt genau die bestürzende Priorisierung von Wirtschaft über Umwelt und letztendlich auch über Menschen, die viele am Freitag Vormittag gehaltenen Reden anprangerten. Wir sind genau so dankbar für alle Arbeitenden, die unser Leben weiterhin ermöglichen, wie die meisten anderen. Allerdings setzen wir uns dafür ein, dass ihre Arbeit am Ende des Tages für ein gutes Zusammenleben in einer lebenswerten Welt geschieht und nicht für ein sich möglichst jährlich um 4% steigerndes Wirtschaftswachstum oder Mehren des Vermögens weniger Superreicher, selbst in einer Pandemie.“
Auch konkrete Forderungen an Stadtpolitik
„Wir setzen uns für eine Welt ein, in der es egal ist, ob man aus Vergnügen oder für die Arbeit in der Innenstadt ist, da man nur in einem potenziell schnell aufgelösten Stau aus wenigen öffentlichen Verkehrsmitteln sitzt, anstatt sich durch endlose Autoschlangen zu quälen. Wir würden uns freuen, wenn Sie sich beim nächsten Stau durch Feierabendverkehr mit gleichem Eifer unserer Kritik anschließen. Für eine Welt, in der das von Ihnen erwähnte Mikroplastik, das laut der Universität Wien u.a. hauptsächlich durch Reifenabrieb verursacht wird, kein so großes Problem mehr darstellt. Und für eine Welt in der, wie Sie ganz richtig bemerken, die Grünen Finger nicht mehr beschnitten werden. (Dagegen haben wir übrigens, anders als impliziert, auch protestiert). Wir haben außerdem viele weitere „ganz konkrete“ Forderungen auf regionaler Ebene, wie die Verlegung der B68 aus der Stadt sowie der Stopp des Ausbaus der A33 Nord und unsere Kritik am FMO. All das kann man auch in unseren Forderungen nachlesen oder in Redebeiträgen auf jeder unserer Demonstrationen erfahren.“
Wertewandel unumgänglich
„An diesen Beispielen zeigt sich aber doch ganz deutlich das Dilemma des gegenwärtigen Wirtschaftssystems: Solange es den Zwang gibt, wachstumsorientiert – und damit umweltschädlich – zu produzieren, sind Menschen „in Politik und Verwaltung“ dazu genötigt, wachstumsorientierte Entscheidungen zu treffen. Deswegen hätten wir gerne gewusst, welche Demonstrationsform Sie uns vorgeschlagen hätten.“
Umsetzung der bekannten Maßnahmen ist notwendig
„Gerade in der 68er-Bewegung, an der wir uns ein Beispiel nehmen sollen, hat sich die Sitzblockade als gängige Aktionsform etabliert. Und so sehr wir uns auch über den durch sie teilweise geebneten Weg freuen: Hätte ihr damaliger „Marsch durch die Institutionen“ gereicht, würde dieser Brief wohl nicht mit Ausblick auf einen Kohlebagger geschrieben werden. Um Ihren Appell „anzupacken“ mit Ihrem geäußerten Unzugehörigkeitsgefühl zu unserer jungen Bewegung zu verbinden, möchten wir Sie sowohl auf mehere Baumpflanzaktionen, an denen wir zurzeit mitwirken, als auch auf die Parents, Scientists, Psychologists, Architects, Lawyers, Engineers usw. for Future-Gruppen hinweisen. Vielleicht möchten Sie ja selbst die Journalists for Future gründen? Und obwohl viele von uns sich nach und nach durch ihr Studium oder ihre Ausbildung auch diesen Gruppen anschließen, sind es eigentlich keine neuen Erkenntnisse, die wir brauchen, sondern die Umsetzung der weithin bekannten Maßnahmen, die einzuforden die ursprüngliche Idee von FFF war. Denn wir wollen raus aus diesem Status quo, in dem Nachhaltigkeit, Menschenrechte und Wirtschaftlichkeit ein Widerspruch sind, der trotz seiner Offensichtlichkeit weiter von Entscheidungstragenden aufrecht erhalten wird, und der sich auch durch Maskensammeln nicht beheben lässt.
Lieber Herr Pohlmann, wir möchten Sie abschließend einladen, doch gerne beim nächsten Klimastreik mit uns in die Diskussion kommen, damit wir dann vielleicht fundiert Argumente austauschen können.“
Fridays for Future Osnabrück unterzeichnet den Leserbrief als geschlossene Gruppe.
Symbolfoto: Klimastreik.